Mit dem CASCAP-2 ist der Nachfolger des CASCAP-D erschienen. Mithilfe des Befund-Systems CASCAP-2 können die wichtigsten Merkmale psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter im klinischen Alltag erfasst und dokumentiert werden. Autor Prof. Dr. Manfred Döpfner beantwortet im Interview wichtige Fragen zum neuen Befund-System.
Inwiefern stellt die Erhebung des psychopathologischen Befundes einen wichtigen Bestandteil der klinischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen dar? Warum ist es wichtig, psychische Störungen auf der Ebene von Einzelsymptomen phänomenologisch zu beschreiben?
Psychopathologie, also die genaue phänomenologische Beschreibung der psychischen Symptomatik ist ein wesentliches und unverzichtbares Element einer umfangreichen, multimodalen Diagnostik. CASCAP-2 dient der Erfassung des klinischen Urteils auf der Ebene einzelner Symptome. Einzelsymptome sind die Merkmalsebene, die bei der initialen klinischen Exploration angesprochen werden. Bevor eine Diagnose gestellt werden kann, müssen zunächst die Einzelsymptome, die die Patienten, der Patient hat oder auch nicht hat, identifiziert werden.
Mithilfe des CASCAP-2 können über 100 psychopathologische Einzelmerkmale klinisch beurteilt werden. Wie wurden diese 100 Einzelmerkmale ausgewählt?
CASCAP hat sich bei der Entwicklung einerseits sehr an das AMDP-System im Erwachsenenalter angelehnt. Allerdings werden dort bei weitem nicht alle Symptome berücksichtigt, die im Kindes- und Jugendalter relevant sind. Weitere Symptome wurden zum einen aufgrund der profunden klinischen Erfahrung aller CASCAP-Autor*innen ausgewählt. Zum anderen wurden Symptome, die in den kategorialen Diagnosen von DSM-IV bzw. DSM-5 und von ICD-10 genannt werden sowie Symptome aus störungsübergreifenden Fragebogenverfahren, wie der CBCL, herangezogen.
Das CASCAP-2 ist der Nachfolger des CASCAP-D. Welches sind die wichtigsten Neuerungen?
Eigentlich wurde gar nicht so viel verändert. Es wurden einige wenige Items ergänzt, die in der ersten Auflage nicht enthalten waren: Bindungsmangel, instabile Beziehungsgestaltung, Intrusionen, exzessive Mediennutzung. Zudem wurde ein Item („Geschlechtsidentitäts-/sexuelle Störungen“) in zwei separate Items aufgeteilt. Die vier neuen Items sind wichtige Ergänzungen, die bei der Entwicklung des Systems vor mehr als 25 Jahren noch nicht so im Fokus stehen. Das gilt auch für die Geschlechtsidentitätsstörung, die in den präziseren Begriff der Geschlechtsdysphorie umbenannt wurde. Deren Bedeutung hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen und sie unterscheidet sich deutlich von anderen sexuellen Störungen, die in CASCAP-2 deshalb davon abgetrennt wurden. Neben diesen Änderungen auf Itemebene, wurden neue Analysen zur psychometrischen Struktur des Befundes und zum Zusammenhang mit anderen Beurteilungen aufgenommen.
Welche Gründe sprechen dafür, CASCAP-2 bei der Erhebung und der Dokumentation des psychopathologischen Befundes einzusetzen: Was sind die Hauptvorteile für Anwender*innen und Patient*innen?
Im psychopathologischen Befund bildet sich die untersuchende Person ein eigenes klinisches Urteil über die psychische Symptomatik der Patientin oder des Patienten. CASCAP-2 ist niedrig strukturiert. Das heißt, das System macht keine Vorgaben, wie das Urteil gebildet wird bzw. welche Fragen zu stellen sind. Deshalb lässt es sich leicht in die klinische Untersuchung integrieren und es ermöglicht eine einfache und ökonomische Dokumentation der klinischen Einschätzung.
Welche Anwender*innengruppen können mit CASCAP-2 arbeiten? Mit welchem Aufwand ist die Einarbeitung in das Befund-System verbunden?
Mit CASCAP-2 arbeiten können Fachleute, die mit der Psychopathologie von Kindern und Jugendlichen vertraut sind, also vor allem Klinische Psycholog*innen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen. Es ist gut, das Glossar genau zu studieren und sich die Definition der einzelnen Merkmale einzuprägen. Der Explorationsleitfaden kann ebenfalls sehr hilfreich sein. Wir planen, auf der Plattform zum e-Training (https://www.etraining-kjp.de/) in den nächsten Monaten auch exemplarische Interviews zur Verfügung zu stellen, die dann auch zu Trainingszwecken genutzt werden können.
Welche Indikationen bzw. klinische Fragestellungen sprechen für den Einsatz des CASCAP-2?
Immer dann, wenn eine klinische Einschätzung der psychischen Symptomatik eines Kindes oder Jugendlichen bis hin zu einer Diagnose notwendig ist, lässt sich CASCAP-2 gut anwenden. Das Verfahren ist somit nicht auf bestimmten Patient*innengruppen begrenzt, sondern eignet sich sehr gut für den routinemäßigen Einsatz, für den es auch explizit entwickelt wurde. Es wird in vielen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken standardmäßig eingesetzt. Auch viele niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen nutzen das Verfahren, um im Rahmen von gutachterpflichtigen Psychotherapieanträgen den psychopathologischen Befund zu formulieren.
Kann bzw. sollte CASCAP-2 mit weiteren Verfahren kombiniert werden, z.B. mit psychologischen Testverfahren?
CASCAP-2 dient der Erfassung des klinischen Urteils. Es sollte im Rahmen der von mir schon seit geraumer Zeit propagierten multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik mit Verfahren kombiniert werden, die unmittelbar das Urteil von Patient*innen, von Eltern und von anderen Bezugspersonen erheben, wie beispielsweise die Verfahren des Diagnostik-Systems für Psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder und Jugendliche - III (DISYPS-III) oder auch die von Thomas M. Achenbach entwickelten störungsübergreifenden Verfahren, also die deutschen Formen der Child Behavior Checklist für Klein- und Vorschulkinder (CBCL/1½–5 und C-TRF/1½–5) bzw. für das Schulalter (CBCL/6-18R, TRF/6-18R und YSR/11-18R).
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Manfred Döpfner
Prof. Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Manfred Döpfner ist seit 1989 Leitender Psychologe an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln und dort seit 1999 Professor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- Jugendlichenpsychotherapie (AKiP).
Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren sind häufig. Am Beispiel der Trennungsangst zeigen Kathrin Sevecke und Rüdiger Kißgen die Schritte von Diagnostik bis zu Behandlungsoptionen auf.