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Der weite Weg zur Diagnose und Therapie chronischer Schmerzen

Von Renate Döbrich und Franziska Wanger.

In Deutschland sind laut internationaler Analysen ca. 17 Millionen Menschen von chronischen Schmerzen betroffen. Diese Erkrankung ist gekennzeichnet durch ihre komplexen biologischen und neurologischen Zusammenhänge und vielfältige individuelle, soziale und psychosomatische Einflussfaktoren.

Deshalb ist es schwierig, bei der, meist auf körperlicher Untersuchung beruhenden Diagnostik ein umfassendes biopsychosomatisches Gesamtbild der Erkrankung und deren Stadium zu erhalten. Hilfreicher ist eine multimodale Diagnostik aus Medizin, Psychologie und sozialen Aspekten. Erst daraus lässt sich ein individuell abgestimmtes multimodales Therapiekonzept entwickeln.

In schmerztherapeutischen Kliniken und Schmerztageskliniken ist dieser Ansatz therapeutische Basis. Allerdings ist die Zahl der Therapieplätze verschwindend gering.

Chronische Schmerzen akzeptieren und gut damit leben entspannte Frau

Ein Buch, das Mut machen soll

Die Autorinnen Renate Döbrich und Franziska Wanger haben sich in einer Schmerztagesklinik kennengelernt. Nach Franziskas Therapieabschluss und unter dem Eindruck der Coronakrise sowie fehlender multimodaler Therapiemöglichkeiten, haben sich die Autorinnen zu diesem Buch entschlossen. Aus therapeutischer Sicht ist oftmals sowohl eine voll-, als auch eine teilstationäre Therapie zu kurz, um nachhaltig einen neuen Umgang mit den chronischen Schmerzen beizubehalten und im Lebensalltag fest zu etablieren.

Mit dem Buch wollen sie betroffenen Menschen mit schmerztherapeutischen Informationen, Hilfestellungen und Franziskas Erfahrungen als Schmerzpatientin Mut machen.

Sie zeigen Wege, um aus der Hilflosigkeit auszubrechen und selbstbewusst und -kompetent mit der Krankheit umzugehen. Franziska Wanger schildert nachvollziehbar, wie sich durch die chronischen Schmerzen ihr gesamtes Leben, aber auch ihr Denken und Verhalten verändert haben. Sie erzählt aber auch von den Auswirkungen auf ihr soziales Umfeld und ihre damit verbundenen Selbstvorwürfe. Viele Erkrankte werden Franziskas Schilderungen über ihre diagnostische und therapeutische Odyssee nachvollziehen können. Erst die klare Diagnose „chronische Schmerzkrankheit “ eröffnete ihr mit dem multimodalen Therapieansatz eine neue Perspektive.

Hilfestellung für einen neuen Umgang mit der Erkrankung

Der Buchtitel „Chronische Schmerzen – ein gutes Leben jetzt erst recht“ soll von Anfang an darauf hinweisen, dass es hier weniger um den akuten, als vielmehr um den chronischen Schmerz geht. Wir wissen, dass Betroffene in ihrem Schmerzerleben keinen Unterschied feststellen können. Aus der Erfahrung halten wir es deshalb für notwendig, den Unterschied zwischen akuten und chronischen Schmerzen erst einmal in leicht verständlicher, zum Teil bildhafter Sprache zu erklären. Neben den rein körperlichen, biologischen und neurologischen Prozessen geht es dabei auch um den Einfluss verschiedenster psychischer und sozialer Aspekte. So können zum Beispiel erlernte Bewertungs- und Verhaltensmuster und anhaltende, bewusste oder unbewusste, psychische Belastungen die Entstehung einer chronischen Schmerzkrankheit begünstigen und / oder sie auch verstärken. Wenig bekannt ist, dass auch bestimmte Ernährungsgewohnheiten, ungünstige Bewegungsmuster oder Bewegungsdefizite an der Chronifizierung beteiligt sein können.

Wir geben in diesem Buch Hilfestellung für einen gesundheitsfördernden und im Sinne der Selbsthilfe neuen Umgang mit der Erkrankung. Dabei wollen wir aber auch bewusst darauf aufmerksam machen, dass medizinische und psychologische Unterstützung und Begleitung häufig notwendig sind, um Schmerzspitzen zu reduzieren. Oftmals sind Schmerzpatient*innen erst dann in der Lage, sich mit notwendigen Verhaltensänderungen auseinanderzusetzen und das Leben wieder aktiv in die Hand zu nehmen.

Das Wissen über all diese Prozesse und die Auseinandersetzung mit sich selbst kann neue Wege im Umgang mit der Erkrankung eröffnen, vorausgesetzt es gelingt, die Diagnose zu akzeptieren. Denn anders als bei akuten Schmerzen, die mit entsprechenden Therapien und angepassten Verhaltensweisen wieder verschwinden, können chronische Schmerzen nervtötende Wegbegleiter bleiben.  Grübeln, mit dem Schicksal hadern, sich als hilfloses Opfer fühlen oder dagegen ankämpfen, die Lösung in jeder neuen Therapiemethode und zahllosen Heilsversprechen suchen – viele Menschen gehen diesen Weg. Davon kann auch Franziska ein Lied singen. Und jede Enttäuschung führt einmal mehr zur Verzweiflung, vielleicht auch zur Resignation. Für viele Betroffene gibt es daher zuerst nur eine vorstellbare Lösung: „der Schmerz muss weg!“

Unser Buchtitel lädt zu einem rigorosen Perspektivenwechsel ein: „Gut leben – mit chronischen Schmerzen“. Fast trotzig (dem Schmerz trotzend) ist noch angefügt: „jetzt erst recht!“
 

Am Anfang steht die Akzeptanz dessen, was Tatsache ist: es handelt sich um eine chronische Erkrankung. Was die meisten nicht wissen: der Daueralarm „Schmerz“ hat seine Warnfunktion verloren.

Das bisherige Schon- und Vermeidungsverhalten begünstigt eher das Problem, als dass es gesundheitsfördernd und schmerzlindernd wäre.

Auch Franziska hatte mit der Akzeptanz große Mühe.

Ein Weg der kleinen Schritte

Unser Appell zum Perspektivenwechsel kann bei Betroffenen anfangs Wut und Abwehr erzeugen. Den Fokus weg vom Schmerz hin zum Leben zu lenken, ist nur schwer vorstellbar. Was soll das sein  - ein gutes Leben mit Schmerz?

Wir wollen dazu anregen, sich einmal grundsätzlich mit den eigenen Vorstellungen von einem guten Leben zu beschäftigen und dann den Ist-Zustand kritisch zu reflektieren. Früher… - heute? Es ist mühsam, der Vergangenheit nachzutrauern und damit den (Seelen-)Schmerz zu verstärken. Handeln, verändern, aktiv werden geht nur im Jetzt. Statt zu warten, bis es irgendwann besser wird, zeigen wir einen Weg der kleinen Schritte hin zu einem neuen Selbst- und Gesundheitsbewusstsein. Was es dazu braucht? Franziska hat während der Therapie erst einmal Ideen gesammelt und in einer „Best-of“-Liste zusammengefasst. Sie enthält drei Spalten, für Körper, Seele und Geist. Über allem steht die Achtsamkeit mit sich selbst sowie der Um- und Mitwelt. Die wesentlichen Punkte sind: den eigenen Körper als Ganzes wahrnehmen zu lernen, mit seinen schmerzfreien und schmerzhaften Stellen. Sich hineinzufühlen, was ihm wann guttun könnte. Bereitschaft zu entwickeln, neues auszuprobieren. Selbsthilfemöglichkeiten für eine gezielte Schmerzlinderung anwenden zu lernen. Konsequent und diszipliniert Bewegung, Körperwahrnehmung und Entspannung in den Alltag zu integrieren. Das Genießen auf verschiedenste Weise (Körper, Unternehmungen, soziale Kontakte) wieder für sich zu entdecken. Ungünstige, Stress verschärfende Denk-, Bewertungs- und Verhaltensmuster zu erkennen und vielleicht auch mit therapeutischer Hilfe zu verändern. Es braucht Mut und Entschlossenheit, Altes loszulassen, sich für Neues zu interessieren und soziale Kontakte (wieder) zu pflegen. Gewohnheiten sind schwer zu durchbrechen. 

Enttäuschungen Ja, die gibt es. Wieder einmal kommt es auf die Bewertung an. „Hilft ja doch alles nichts!“ oder „Ich habe ja auch schon bessere Phasen erlebt. Und die kommen wieder, wenn ich am Ball bleibe.“  So klingt Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten und in eine gute Zukunft. 

Mit unseren Anleitungen und Hilfen wollen wir schmerzgeplagte Leserinnen und Leser dazu ermutigen, selbstbestimmt neue Wege auszuprobieren und sie den eigenen Bedürfnissen anzupassen.

Das ganze Leben in den Blick nehmen

Franziska schildert, wie spannend diese Entdeckungsreise sein kann. Eines der Schlüsselerlebnisse: der Kauf neuer, individuell angepasster Laufschuhe und dann konsequent damit zu gehen. Sich Herausforderungen zu stellen, ob privat oder beruflich, heißt auch, die eigene Selbstwirksamkeit zu entdecken. Geduld und Nachsicht mit sich selbst sind hier ebenso wichtig, wie die Selbstermutigung, wenn sich wieder Unsicherheit und Selbstzweifel einmischen. Selbstvertrauen wächst, wo eigene gedachte oder reale Grenzen überschritten werden können. Eine dieser Grenzen ist z. B.  die aus früheren Erfahrungen festgelegte Belastungsgrenze. Erst das anhaltende daran „Rütteln“ hilft, sie zu verschieben. In dem angefügten „Wandertagebuch Step by Step“ greifen wir wesentliche Alltagselemente auf, die es gerade bei chronischen Schmerzen zu bearbeiten gilt. Das sind: regelmäßiges Bewegungstraining, Alltags- und Pausengestaltung, die Wahrnehmung schmerz- und stressfördernder Gedanken und deren bewusste Veränderung, die Pflege sozialer Kontakte oder auch der bewusste Rückzug und die Verbesserung der Schlafqualität.

Mit dem im Buch dargestellten „Lebensrad“ wollen wir auch dazu anregen, das ganze Leben in den Blick zu nehmen. Es ist mehr als Schmerz, Bewegung, Ernährung, Arbeit und Beziehungen. Vieles gerät in Krisensituationen oder im Alltagstrott aus dem Blickfeld.  Das entstandene Ungleichgewicht lässt sich erst bei genauem Hinsehen erkennen, aber auch die vielfältigen Gestaltungsräume., die durch die Fokussierung auf den Schmerz verstellt waren. Veränderungen an der einen oder anderen Stelle können die Lebensqualität nachhaltig verbessern helfen.

Zum Schluss noch ein wichtiger Hinweis: Im Feuereifer kann es passieren, dass man zu viele Baustellen auf einmal einrichtet, sich zu viele Veränderungen auf einmal vornimmt. Deshalb appellieren wir an die Leserin, den Leser, persönliche Prioritäten zu setzen, den Grundsatz „Step by Step“ zu beherzigen und auf das individuelle Tempo zu achten. Es braucht Zeit, bis neue Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen wirklich gelernt sind und sich vertraut, das heißt auch gut, anfühlen.

Wahrnehmen, Innehalten, Umdenken, Neu-Bewerten und dann erst Handeln.

Informationen, Impulse und Experten-Knowhow von Renate Döbrich, Expertin für Schmerzbewältigung und Gesundheitstraining

Schilderungen aus Betroffenensicht und Zeichnungen von Franziska Wanger, chronische Schmerzpatientin 

Renate Döbrich

Seit Beginn ihres Berufslebens als MTA bis heute begeistert sie sich für die Medizin. Anfangs standen die Krankheit und deren diagnostische Möglichkeiten im Vordergrund. Später beschäftigte sie zunehmend die Frage: „Was hält Menschen gesund oder hilft ihnen wieder zu mehr Gesundheit?“. Sie entschloss sich zum Aufbaustudium „Fachreferentin für Gesundheitstraining“. Gesundheit ist mehr als das Fehlen einer Krankheit, es ist ein immerwährender bio-psycho-sozialer Prozess. Seit nunmehr 20 Jahren begleitet sie Menschen mit chronischen Schmerzen auf deren ganz individuellem gesundheitsfördernden Weg. Sie war wesentlich am Aufbau der Schmerztagesklinik Rosenheim beteiligt und arbeitete dort 17 Jahre lang an der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Therapiekonzepts mit. Es ist ihr wichtig, dass Patient*innen das komplexe Schmerzgeschehen besser verstehen, den Zusammenhang mit bisherigen Verhaltens- und Denkgewohnheiten entdecken und Selbsthilfetechniken und -strategien anwenden lernen .

Franziska Wanger

Franziska Wanger arbeitet als selbständige Trainerin & Referentin in der Erwachsenenbildung. Im Alter von 33 Jahren brach sie sich bei einem Sturz das Steißbein. Über Jahre hinweg litt sie unter starken, anhaltenden Schmerzen. Nach einer Odyssee an Heilungsversuchen wurde sie von einem Arzt in die Schmerztagesklinik eingewiesen. Während der fünfwöchigen Therapie verbesserten sich ihre Beschwerden deutlich. Sie erlernte dort einen völlig neuen Umgang mit dem Schmerz. Während ihrer „schmerzreichen“ Zeiten schrieb Frau Wanger Tagebuch. Ihre Erfahrungen, Irrwege und Lichtblicke schildert sie nun in diesem Buch, um andere Patient*innen zu ermutigen, ihren eigenen Weg aus dem Schmerzdilemma zu finden.

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Chronische Schmerzen – ein gutes Leben jetzt erst recht
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von Renate Döbrich, Franziska Wanger