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Diagnostik von Stress und Stressbewältigung

Ob in der Schule, im Büro oder im Alltag – Stress ist für viele von uns ein täglicher Begleiter. Wir haben mit den Autor*innen Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann, Prof. Dr. Heike Eschenbeck, Prof. Dr. Matthias Jerusalem und Prof. Dr. Arnold Lohaus über die Diagnostik und die Bewältigung von Stress gesprochen.

Die Ursachen von Stress

Was führt zu Stress? Gibt es Unterschiede zwischen den Stressoren im Kindes- und Jugendalter im Gegensatz zu den Stressoren bei Erwachsenen?

Heike Eschenbeck: Die Frage ist interessant. Ich denke eher, dass es über die Altersgruppen hinweg zahlreiche Gemeinsamkeiten gibt. Ereignisse werden insbesondere dann als stressig wahrgenommen, wenn sie als nur wenig beeinflussbar und kontrollierbar erlebt werden, der Ausgang nicht vorhersehbar scheint, die Situation aber wichtig und bedeutsam für die Person ist. Typische von Kindern und Jugendlichen berichtete Alltagsstressoren beziehen sich auf Anforderungssituationen in der Schule (z. B. schwierige Klassenarbeit) und Konfliktsituationen in der Familie oder mit Gleichaltrigen. Ähnlich zählen bei Erwachsenen insbesondere berufliche Stressoren und soziale Konfliktsituationen zu den typischen Alltagsstressoren, die dementsprechend auch in den diagnostischen Instrumenten im Vordergrund stehen.


Was können die gesundheitlichen Folgen von Stress sein?

Arnold Lohaus: Bei erhöhten Anforderungen kommt es zunächst zur Aktivierung des Organismus. Wenn dieser Zustand längere Zeit andauert, kann es zu Stressreaktionen kommen, die sich sowohl in körperlichen als auch in psychischen Belastungssymptomen (z. B. Kopfschmerzen, Erschöpfungsgefühle etc.) zeigen können. Die Symptome können ihrerseits das Stresserleben weiter erhöhen, weil es dadurch noch schwieriger werden kann, den Anforderungen gerecht zu werden. Die Erfassung von Stresssymptomen kann wichtig sein, um gegebenenfalls präventiv oder interventiv tätig werden zu können. Diagnostische Verfahren, die diese Erfassung ermöglichen, sind in unserem Buch zusammengestellt.

Carl-Walter Kohlmann: Als weitere, sekundäre Folge kann Stresserleben darüber hinaus auch Risikoverhalten wie z. B. verstärkten Alkoholkonsum begünstigen, was sich wiederum gesundheitlich ungünstig auswirkt.


Woran liegt es, dass einige Personen anfälliger für Stress sind als andere, und worin unterscheiden diese Personen sich?

Matthias Jerusalem: Die Anfälligkeit für Stress hängt eng mit der Einschätzung eigener Ressourcen zusammen, mit denen man Stress meistern kann. Starke, die Bewältigung von Anforderungen unterstützende Ressourcen (z. B. hohe Kompetenz, Optimismus, soziale Unterstützung) können die Stressanfälligkeit reduzieren, d. h. sie lösen weniger Stress aus, fördern eher Zuversicht und eine konstruktive Bewältigung als schwache Ressourcen, angesichts derer man sich den Anforderungen kaum bzw. nicht gewachsen fühlt.
Je schwächer die erlebte Ressourcenausstattung, umso höher die Stressanfälligkeit. Die psychologische Forschung verdeutlicht, dass insbesondere die Ausprägungen generalisierter persönlicher Überzeugungen zur Kontrollierbarkeit von Anforderungen durch eigene Kompetenzen (Selbstwirksamkeit) oder durch soziale Unterstützung anderer Menschen die Anfälligkeit für Stress erheblich mitbestimmen. Starke Überzeugungen gehen in stressbezogenen Situationen (z. B. Prüfungen, soziale Konflikte) eher mit Herausforderungserleben und konstruktiven Strategien, schwache Überzeugungen eher mit Bedrohungserleben und weniger konstruktiven Strategien einher.
In unserem Buch wird vor allem die Frage beantwortet, welche diagnostischen Instrumente in verlässlicher Weise zur Messung von Ressourcen geeignet sind und inwieweit sie in der Lage sind, empirische Bezüge der erfassten Ressourcenausprägung mit Stressanfälligkeit, Stresserleben und Stressbewältigung abzubilden.

Die Bewältigung von Stress

Was raten Sie Menschen, um besser mit Stress umgehen und ihn bewältigen zu können?

Heike Eschenbeck: Es ist sicher hilfreich, unterschiedliche Bewältigungsstrategien an der Hand zu haben, um je nach Stressauslösern Passendes tun zu können. Günstig ist zunächst zu überlegen, was das Problem ist. Sind die Anforderungen veränderbar, lässt sich direkt an den Stressoren ansetzen und versuchen, diese zu verändern oder zu beheben. Sind die Stressauslöser hingegen nicht direkt beeinflussbar, können emotionsorientierte Strategien hilfreich sein, z. B. Entspannungsübungen, Bewegung oder ein Ausgleich durch Hobbys. Wichtig ist aber auch, Individuen vor schädigenden Stressoren zu schützen. Nicht jede Anforderung ist individuell handhabbar.


Was ist die größte Herausforderung bei der Diagnostik von Stress und Stressbewältigung?

Heike Eschenbeck: Es gibt viele Herausforderungen. Beispielsweise ist vorneweg die Frage zu klären, ob der Fokus auf Stressauslösern, Stressreaktionen, Stressbewältigung oder Ressourcen liegt. Auch gibt es ganz unterschiedliche Zugänge zur Stressdiagnostik, z. B. stärker physiologisch oder stärker am subjektiven Erleben der Person orientierte Ansätze. Und weiter gibt es mit Blick auf Selbsteinschätzungen der Person eine große Vielfalt an diagnostischen Instrumenten, woraus dann passend zur Fragestellung ein geeignetes Fragebogenverfahren auszuwählen ist.

Matthias Jerusalem: Dabei ist zu prüfen und zu klären, inwieweit die Instrumente wirklich messen, was sie messen sollen, und ob diese zuverlässige diagnostische Befunde liefern können.

Carl-Walter Kohlmann: Die Diagnostik kann retrospektiv über Selbstberichte in Fragebogen oder Interviews (z. B. im Rahmen von klinischen Interviews) oder möglichst ereignisnah durch Tagebuchaufzeichnungen oder Ambulantes Assessment erfolgen. Auch in experimentell kontrollierten Laborsituationen lassen sich relevante Erkenntnisse gewinnen. Die Stärken und Schwächen der verschiedenen Zugänge sind bei der Wahl der Methode zu berücksichtigen. Wird z. B. im Anschluss an ein belastendes Ereignis die Stressbewältigung retrospektiv erfasst (z. B. am Abend, eine Woche oder einen Monat nach dem Ereignis), lassen sich mangelnde Genauigkeit der Erinnerungen und Verfälschungstendenzen in den Antworten nicht unbedingt ausschließen. So dürfte der Verlauf eines Ereignisses (z. B. positiver Ausgang oder Fortbestehen der Belastung) die Erinnerung an das eigene Bewältigungsverhalten beeinflussen. Ambulantes Assessment und Tagebücher sind dagegen für die Beschreibung der Stressoren im Alltag relevant. Mit der zeitnahen Registrierung sind allerdings auch besondere Herausforderungen verbunden. So ist beispielsweise sicherzustellen, dass durch die Messung aktuelle Handlungen nicht beeinträchtigt werden. Mit dem Buch möchten wir auf Basis des Einsatzzwecks und der Gütekriterien Anhaltspunkte für die Wahl der geeigneten diagnostischen Verfahren geben.

Das neue Buch „Diagnostik von Stress und Stressbewältigung“

Was erwartet die Leserinnen und Leser in Ihrem neuen Werk „Diagnostik von Stress und Stressbewältigung“?

Carl-Walter Kohlmann: Nach einer Einführung in den wissenschaftlichen Stand zu den dominierenden Stresskonzeptionen geben wir einen Überblick über die verschiedenen Anforderungen an die Stressdiagnostik. Den Schwerpunkt bildet die Darstellung von Verfahren zur psychologischen Diagnostik von Stressoren, Stressreaktionen, Formen der Stressbewältigung und Ressourcen über Fragebogen und Interviews. Diese werden jeweils differenziert nach dem Einsatz im Kindes- und Jugendalter oder bei Erwachsenen vorgestellt. Neben allgemeinen Verfahren mit einem breiten Anwendungsspektrum werden auch Erhebungsinstrumente für spezifische Problemfelder (z. B. Diagnostik von Burnout, Stressbewältigung am Arbeitsplatz, Krankheitsbewältigung) berücksichtigt. Darüber hinaus werden Ansätze aus der psychobiologischen und experimentellen Stressdiagnostik sowie Anwendungsbereiche des Ambulanten Assessments skizziert. Den Abschluss bilden Beispiele zur Anwendung der psychologischen Stressdiagnostik in verschiedenen Handlungsfeldern.


An wen richtet sich das Buch?

Carl-Walter Kohlmann: Das Buch ist für diejenigen konzipiert, deren praktische Tätigkeit oder Forschung zum Stressgeschehen eine gezielte Auswahl geeigneter diagnostischer Verfahren und deren Kombination erfordert. Insgesamt werden mehr als 80 diagnostische Verfahren und deren Anwendung zur Diagnostik von Stressoren, Stressreaktionen, Formen der Stressbewältigung und Ressourcen vorgestellt, die für verschiedene Praxisfelder der Klinischen und Medizinischen Psychologie, der Gesundheitspsychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie der Pädagogischen Psychologie inkl. Schulpsychologie relevant sind. Zur angesprochenen Zielgruppe zählen auch Ärztinnen und Ärzte, weitere Fachkräfte im Gesundheitswesen wie z. B. aus der Pflege, Pädagoginnen und Pädagogen oder Stressmanagement-Trainer und -Trainerinnen, die in ihrem Beruf auf eine aussagekräftige Stressdiagnostik angewiesen sind. Neben den angesprochenen Fachleuten richtet sich das Buch auch an Studierende der o. g. Disziplinen.

Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann

Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann ist seit 1998 Professor für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Er ist Initiator und langjähriger Sprecher der Studiengänge zur Gesundheitsförderung an der PH Schwäbisch Gmünd und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung für gesundheitliche Prävention Baden-Württemberg.

Heike Eschenbeck

Heike Eschenbeck ist seit 2014 Professorin für Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, Abteilung Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Themen Befinden, Stressbewältigung und Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen.

Prof. Dr. Matthias Jerusalem

Prof. Dr. Matthias Jerusalem ist seit 1992 Professor für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Ressourcen-, Stress-, Motivations- und Selbstwirksamkeitsförderung.

Prof. Dr. Arnold Lohaus

Prof. Dr. Arnold Lohaus hat seit 2006 eine Professur für Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie an der Universität Bielefeld. Neben entwicklungspsychologischen Themen interessieren ihn vor allem Fragen der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention im Kindes- und Jugendalter.

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