Skip to main content
DeutschGesundheitswesenPflege und Health professionals

Die Verflechtung von Theorie und Praxis in den jüngeren Therapiewissenschaften – einstweilige Überlegungen

Von Prof. Dr. Sascha Sommer.

Das Miteinander von Theorie und Praxis in den angewandten Wissenschaftszweigen Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie gestaltet sich verwoben und mannigfaltig. Gerade angesichts der noch in Entwicklung begriffenen akademischen Professionalisierung stellen die tiefgreifenden Vorgänge des gesellschaftlichen Wandels – wie beispielsweise die Veränderung der Altersstruktur, die digitale Durchdringung oder das wuchernde ökonomische Diktat – besondere Herausforderungen dar. Genau wie in den verwandten medizinischen und psychologischen Disziplinen braucht es hier ein akademisch fundiertes, und in reflektierter Praxis gründendes therapeutisches Handlungswissen, um den komplexen Dynamiken und Anforderungen fachlich gerecht zu werden.

Eine Möbiusschleife in der Natur als Sinnbild von Theorie und Praxis in den Therapiewissenschaften Bild: Getty images, drcooke

Systematisierungen des therapeutischen Handelns konstruieren das Verhältnis allerdings häufig noch als eine Art von Gegenüber. Es gibt eine bemerkenswerte Distanz zwischen einerseits der wissenschaftlich fundierten Theorie und andererseits dem konkreten praktischen Behandlungsgeschehen. Diese Entfernung gälte es demnach zu „überbrücken“. Theorie also hier an diesem Ufer, und die Praxis an jenem, wie die beiden Königskinder, zwischen denen sich das Gewässer ausbreitet, und die zueinander nicht kommen konnten. Die Ballade endet bekanntlich nicht glücklich.

In die Ferne schweifen

So wird, vom akademischen Ufer aus, häufig noch eine mehr oder weniger ausgeprägte „Theorieferne“ der therapeutischen Versorgungspraxis moniert. Diese Sichtweise ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Theoretische Fundierung, Evidenzbasierung und die Umsetzung von Forschungserkenntnissen der Therapiewissenschaften sind in der praktischen therapeutischen Gesundheitsversorgung nach wie vor unterrepräsentiert.

Dies gilt natürlich insbesondere für Deutschland, angesichts der im internationalen Vergleich äußerst rückständigen Akademisierung der hier adressierten drei therapeutischen Disziplinen. Auch nach Jahrzehnten befindet sich der Akademisierungsprozess von Ergotherapie, Physiotherapie und Logopädie weiterhin in einem gesundheits- und hochschulpolitischen Gefrierschlaf. Oder auch „in limbo“, wie es die jüngst akademisch ausgebildete Logopädin Anna-Lena Goldner in ihrem Vortrag ausdrückte. In ihrer Masterarbeit widmet sie sich nun den Faktoren, die das Zusammenwachsen von Wissenschaft und Praxis in der Logopädie erleichtern oder erschweren.

Diese Einflussfaktoren finden sich selbstverständlich an beiden Ufern, dem versorgungspraktischen genau wie dem hochschulischen. Denn die aus der akademischen Perspektive wahrgenommene „Theorieferne“ der therapeutischen Versorgungspraxis ist natürlich nur die eine Sichtachse. Der umgekehrte Vorwurf der „Praxisferne“ der Therapiewissenschaften ist mindestens genauso angemessen. Dies vor allem dann, wenn sich Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie als noch junge, in Entwicklung begriffene wissenschaftliche Disziplinen, methodisch gar zu rigide an den sogenannten „Goldstandards“ der Evidenzbasierten Medizin, mit ihren diesbezüglichen Evidenzhierarchien, ausrichten.

Auf der Goldwaage

Wobei, nur en passant, die Vorstellung einer „Hierarchie“ in der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den medizinischen und anderen, verwandten Gesundheitsberufen durchaus eine gewisse Konnotation hat. Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie werden, dem vielbesungenen Lied über die „Augenhöhe“ zum Trotz, im Alltag von Seiten der Medizin – wie auch der Psychologie – eher selten als gleichrangig wahrgenommen. Der daraus gespeiste, vorauseilende methodologische Legitimationsdruck gegenüber Psychologie und Medizin verengt die Disziplinenentwicklung zu stark auf eben diese sogenannten Goldstandards, und obstruiert (sic) die Entwicklung eigenständigerer professioneller Identitäten von Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Für eine wissenschaftliche Profilschärfung wäre es deutlich zielführender, hierarchische Evidenzordnungen deutlich kritischer zu hinterfragen, bspw. in Bezug auf die Bedeutung von Einzelfallstudien im Kontext der Behandlung von Krankheitsfolgen bei ausgeprägt individuellen Störungsbildern, wie u.a. im Rahmen von neurologischen oder Mehrfacherkrankungen.

Diese (Fehl-)Entwicklungslinien der jüngeren therapeutischen Disziplinen erinnern dabei bemerkenswert an die bereits länger währende Geschichte des Wissenschaftszweigs Psychologie. Hier wurde (und wird) sich bekanntlich intensiv darum bemüht, die Psychologie möglichst nahe an den Naturwissenschaften zu positionieren. Dies hat historisch zu der fortbestehenden obsessiven Fokussierung auf die quantitativ vermessenden methodischen Apparate geführt, wodurch die Weiten der nicht rein quantitativ erfassbaren Räume von Verhalten und Erleben allzu lange, allzu weit aus dem Blick verloren wurden. Was dem kritischen Verständnis von uns selbst – als Personen, wie auch als Spezies – recht offensichtlich wenig zuträglich war, wenn wir die Zurichtung und Zukunftsperspektiven unserer Zeitläufte so reflektiert betrachten, wie es uns unser vermessenes Selbst gestattet.

Zwei Seiten einer Medaille

Aber dies nur en passant, nun wieder in kleineren Dimensionen und in Gänze zurück zum Thema: Um die Distanz der akademischen Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie zur praktischen therapeutischen Gesundheitsversorgung zu verringern oder gar aufzuheben, sollten die beiden Seiten ausdrücklich nicht als dichotom konstruiert werden, also im Wortsinn weder als gespalten noch als uneins. Theorie und Praxis stehen sich im konkreten Behandlungsprozess nicht voneinander getrennt oder gar zwiegespalten gegenüber. Vielmehr sollten sie als zwei Seiten verstanden werden, die sich zu einer gemeinsamen Medaille fügen.

In der konkreten praktischen Fallarbeit mit Menschen müssen das wissenschaftlich begründete Fachwissen (also die „externe“ Evidenz) und die aus der gegebenen persönlichen klinischen Erfahrung gewachsene praktische Expertise (also die „interne“ Evidenz) gleichwertig in einem „Handlungswissen“ zueinander finden. Dieses Handlungswissen wiederum bildet den Kern einer individuellen therapeutischen Fallkompetenz, die es ermöglicht, jeder zu behandelnden Person mit ihren sowohl verallgemeinerbaren wie aber auch vor allem mit ihren einmaligen Charakteristiken, Wünschen und Werten zu begegnen.

Dabei sind immer dort, wo die Fallarbeit im hermeneutischen Sinne gelingt, die biopsychosoziale Gesamtschau der Lebenswirklichkeit, das wissenschaftlich fundierte theoretische Wissen und die aus der eigenen praktischen Arbeit geschöpfte Erfahrung gleichwertige Elemente einer Evidenzbasierten Praxis, die insbesondere auch die Präferenzen von Patientinnen und Patienten mit einbezieht. Das aus interner und externer Evidenz gespeiste therapeutische Handlungswissen bildet dabei den Kern einer solchen Evidenzbasierten Praxis. Dies unterscheidet die Evidenzbasierte Praxis ausdrücklich von der Evidenzbasierten Medizin, die, zumindest in ihrer Standardvariante, vor allem die wissenschaftlichen Erkenntnisse betont. 

Um dabei aber bitte nicht missverstanden zu werden: In forschungszentrierten und theoriebildenden Kontexten kann die Trennung der Elemente der Evidenzbasierten Praxis in einerseits Theorie und andererseits Praxis durchaus sinnvoll oder sogar methodisch notwendig sein. Dort, wo es jedoch um die ganz konkrete reflektierte Fallarbeit und -kompetenz geht, ist eine solche Aufspaltung in der Regel hinderlich.

Am Ende des Bandes, eine Schleife

Das Bild von Wissenschaft und Praxis als den zwei Seiten einer Medaille ließe sich insofern in einer noch weiter greifenden Metapher fassen: Stellen wir uns den Prozess der gelingenden Evidenzbasierten Praxis als eine Art Band vor, das eine Möbiusschleife bildet, also ein Band, dessen zwei Seiten im Verlauf nicht voneinander zu unterscheiden sind.

Abbildung einer Möbiusschleife
Bild: getty images

In der Möbiusschleife gehen oben und unten, innen und außen fließend ineinander über. Im Rahmen der Fallorientierung wären die wissenschaftlich fundierte Herangehensweise und die praktische klinische Expertise dann genau diese zwei Seiten, die im Behandlungsverlauf fließend ineinander übergehen, und dabei kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Die Metapher der Möbiusschleife soll diese in sich geschlossene Mannigfaltigkeit der hermeneutischen Fallorientierung, und ihre Bedeutung, veranschaulichen.

Die Relevanz einer in diesem Sinne gestalteten Einzelfallorientierung wird in der angewandten Gesundheitsforschung immer deutlicher, wenn in Kritik und Erweiterung der tradierten Evidenzbasierten Medizin Evidenzhierarchien abgeflacht werden, um endlich einer methodisch ausgereiften Einzelfallforschung, wie auch den qualitativen Methoden, mehr Gewicht zu geben. So können die akademische Theoriebildung und das kritisch reflektierte therapeutische Handeln in der Logopädie, Physiotherapie und Ergotherapie – ganz im Sinne einer gelingenden Evidenzbasierten Praxis – weiter gemeinsam wachsen.

Bei diesem Text handelt es sich um die aktualisierte und deutlich erweiterte Version des Grußwortes zu dem Band von Ute Schräpler und Jürgen Steiner „Systematische Fallarbeit in der Logopädie“, erschienen 2021 im Kohlhammer Verlag. Im Hogrefe Verlag wurde 2018 der Herausgeberband „Ressourcenorientierte Logopädie – Perspektiven für ein starkes Netzwerk in der Therapie“ von Jürgen Steiner veröffentlicht. Sascha Sommer ist Mitherausgeber des Hogrefe-Sammelbands „Nutzerorientierte Gesundheitstechnologien im Kontext von Therapie und Pflege“ aus dem Jahr 2019.“

Prof. Dr. Sascha Sommer

Prof. Dr. Sascha Sommer hat an der Hochschule Bochum die Professur für Kognitions- und Kommunikationspsychologie inne. Er lehrt, forscht und gestaltet im Fachbereich für Pflege-, Hebammen- und Therapiewissenschaften, dort insbesondere im Studiengang Logopädie. Er ist Mitglied im Fachbeirat des Hogrefe Verlags für den Programmbereich „Health Professionals“.

Empfehlungen des Verlags

Das könnte Sie auch interessieren

Therapiewissenschaften Lehrbuch Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie studieren junge Studierende diskutieren im Stuhlkreis
DeutschGesundheitswesenPflege und Health professionals

Konzepte und Methoden der Therapiewissenschaften

Die Therapiewissenschaften umfassen die Disziplinen Logopädie/Sprachtherapie, Physiotherapie und Ergotherapie. In einem neuen Fachbuch werden die…

Mehr erfahren