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Digitale Hoffnungsträger? DiGAs für Kinder mit psychischen Störungen

Fast ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leidet unter psychischen Auffälligkeiten. Während der Pandemie waren die Zahlen noch besorgniserregender, und auch wenn sie gesunken sind, liegen sie weiterhin über dem Niveau vor der Krise. Gleichzeitig klaffen große Versorgungslücken: Lange Wartezeiten, fehlende therapeutische Angebote, besonders in ländlichen Regionen und sozial benachteiligten Stadtteilen, sowie eine überlastete Versorgung erschweren es jungen Menschen, rechtzeitig Hilfe zu erhalten.

Digitale Gesundheitsanwendungen sollten für Kinder und Jugendliche bereit gestellt werden App für Kind mit psychischen Problemen Bild: shutterstock/MarcoVector

Digitale Technologien könnten helfen, diese Lücken zu schließen. Internet- und mobilbasierte Interventionen (IMIs) sind therapeutische Angebote, die zeit- und ortsunabhängig über Computer oder Smartphones verfügbar sind. Sie basieren häufig auf psychologischen Ansätzen, vor allem der kognitiven Verhaltenstherapie, und können eigenständig oder ergänzend zu klassischen Therapien genutzt werden. Inhalte wie Psychoedukation, Übungen oder Selbstmonitoring werden in Videos, Texten oder interaktiven Formaten vermittelt. IMIs können Teil eines gestuften Versorgungsprogramms sein oder in die psychotherapeutische Behandlung integriert werden (Blended Care). Besonders Jugendliche zeigen eine hohe Bereitschaft, digitale therapeutische Angebote zu nutzen.

Um die Qualität von IMIs in der Versorgung zu sichern, hat Deutschland im Jahr 2019 ein regulatorisches Verfahren zur Zulassung sogenannter Digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGAs) eingeführt und damit überaschenderweise eine internationale Vorbildfunktion in diesem Bereich eingenommen. DiGAs sind regulierte Medizinprodukte, die vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Wirksamkeit, Sicherheit und Datenschutz geprüft werden. Nach erfolgreicher Prüfung können sie von Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen verschrieben und von Krankenkassen erstattet werden.

Während für Erwachsene zahlreiche DiGAs zugelassen sind, fehlt es für Kinder und Jugendliche an vergleichbaren Angeboten. Bisher wurde keine einzige DiGA für psychische Störungen in dieser Altersgruppe zugelassen. Warum ist das so?

1. Limitierte Evidenzgrundlage: Der wissenschaftliche Rückstand

DiGAs für Erwachsene profitieren von über zwei Jahrzehnten intensiver Forschung. Für viele Störungsbilder wie Depressionen oder Angststörungen gibt es solide Wirksamkeitsnachweise. Im Gegensatz dazu sind die Daten für Kinder und Jugendliche deutlich dünner. Zwar zeigen erste Studien, dass digitale Interventionen auch für diese Altersgruppe hilfreich sein können, doch die Anzahl hochwertiger Studien bleibt begrenzt.

Ein Beispiel: Für depressive Störungen bei Erwachsenen existieren zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), die die Wirksamkeit von DiGAs belegen. Bei Kindern und Jugendlichen hingegen wurden nur wenige RCTs durchgeführt, und diese konzentrieren sich oft auf ältere Jugendliche. Junge Kinder, deren Entwicklungsstand und Bedürfnisse sich erheblich unterscheiden, wurden bislang kaum in Studien berücksichtigt. Das Fehlen einer breiten Evidenzbasis schränkt die Möglichkeiten ein, digitale Anwendungen für diese Zielgruppe weiterzuentwickeln und in die Versorgung zu integrieren.

2. Hohe Komplexität bei der Studiendurchführung

Die Durchführung klinischer Studien mit Kindern und Jugendlichen ist aus mehreren Gründen anspruchsvoller als mit Erwachsenen. Zunächst einmal handelt es sich bei dieser Zielgruppe um eine heterogene Population, die sich in ihren Entwicklungsstadien, Bedürfnissen und Fähigkeiten stark unterscheidet. Was für ein 16-jähriges Mädchen geeignet ist, mag für einen 10-jährigen Jungen unpassend sein. Um valide Aussagen treffen zu können, müssen Studien daher sehr spezifische Untergruppen betrachten und entsprechend große Stichproben einschließen.

Diese Rekrutierung ist zudem aufwändiger. Anders als bei Erwachsenen müssen bei minderjährigen Proband*innen oft beide Elternteile einer Studienteilnahme zustimmen, was in Fällen von getrennt lebenden oder uneinigen Eltern problematisch sein kann. Aber auch insgesamt gelten bei Studien mit Kindern und Jugendlichen höhere regulatorische Anforderungen und Sicherheitsmaßnahmen. Diese sind wichtig, um die Kinder und Jugendlichen zu schützen, erhöhen aber den Aufwand und die damit verbundenen Kosten solcher Studien.

3. Hohe Komplexität bei der Entwicklung

DiGAs für Kinder und Jugendliche sind nicht nur schwerer zu erforschen, sondern auch die Entwicklung ist komplexer und aufwändiger als die für Erwachsene. Die Entwicklung einer DiGA erfordert ein tiefes Verständnis der Zielgruppe. Junge Nutzer*innen unterscheiden sich in ihrer kognitiven und emotionalen Entwicklung erheblich von Erwachsenen. Anwendungen, die für Erwachsene erfolgreich sind, können nicht einfach auf Kinder und Jugendliche übertragen werden. Stattdessen müssen sie altersgerecht gestaltet werden, sowohl inhaltlich als auch technisch.

Dabei haben Kinder und Jugendliche oft hohe Erwartungen an digitale Angebote, da sie an moderne, benutzerfreundliche Apps und Spiele gewöhnt sind. Eine DiGA muss daher nicht nur inhaltlich überzeugend sein, sondern auch ein ansprechendes Design und eine intuitive Bedienung bieten. Interaktive Elemente wie Gamification, Belohnungssysteme oder personalisierte Inhalte können helfen, die Motivation und Adhärenz zu erhöhen. Doch solche Funktionen sind aufwendig zu entwickeln und erfordern häufig spezielle Expertisen.

4. Spezifische, wenig erforschte Risiken

Die Nutzung von IMIs birgt auch Risiken, die speziell bei Kindern und Jugendlichen bislang wenig erforscht sind. Besonders wichtig ist es, Hinweise auf Selbst- oder Fremdgefährdung nicht zu übersehen. Ein weiteres potenzielles Problem stellt die Überforderung durch die unbegleitete Auseinandersetzung mit belastenden Themen dar. Ohne die Unterstützung durch Therapeut*innen könnten negative Emotionen verstärkt werden und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Problembewältigung beeinträchtigen.

Auch die Verlängerung der ohnehin schon hohen Bildschirmzeit von Kindern und Jugendlichen wird als mögliches Risiko diskutiert, da sie mit negativen Folgen für Schlaf, Konzentration und soziale Interaktionen verbunden sein kann. Allerdings hängen solche Auswirkungen stark von der Art, Weise und vor allem der Funktion der Nutzung ab. Angesichts der aktuellen Daten zur Adhärenz erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass IMIs zu einer deutlichen Erhöhung der Bildschirmzeit und damit einhergehenden Problemen führen.

Ein weiteres Risiko betrifft die Sicherheit der Daten von Kindern und Jugendlichen. Die Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit für DiGAs sind besonders hoch: Unternehmen müssen ein zertifiziertes Informationsmanagementsystem (z. B. ISO 27001) vorweisen und regelmäßige Penetrationstests zur Überprüfung der Datensicherheit durchführen lassen. Seit 2024 müssen zwei zusätzliche Zertifizierungen vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und BfArM nachgewiesen werden. Diese strengen Vorgaben sind essenziell, um die sensiblen Gesundheitsdaten von Kindern und Jugendlichen zu schützen, erhöhen aber auch den Entwicklungsaufwand und die Komplexität für Hersteller*innen erheblich. 

5. Hohe regulatorische Anforderungen

Neben den hohen Datenschutzanforderungen bei der Entwicklung von DiGAs müssen im DiGA-Zulassungsverfahren hohe regulatorischen Anforderungen beachtet werden. 

DiGAs sind Medizinprodukte der Risikoklassen I bis IIb, die in Deutschland zunächst eine CE-Zertifizierung benötigen. Diese bestätigt, dass die Anwendung den Sicherheits- und Leistungsanforderungen der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) entspricht. Dazu gehört unter anderem der Nachweis der Sicherheit durch klinische Bewertungen und ein etabliertes Risikomanagement. Nach der CE-Zertifizierung können DiGAs im DiGA-Fast-Track-Verfahren beim BfArM gelistet werden. Hier wird zwischen vorläufiger und dauerhafter Zulassung unterschieden:

  • Für die vorläufige Zulassung müssen erste Nachweise zur Sicherheit, Wirksamkeit und Datenschutz sowie ein Konzept für eine klinische Studie zum abschließenden Wirksamkeitsnachweis vorgelegt werden. Diese Zulassung gilt für ein bis maximal zwei Jahre.
  • Die dauerhafte Zulassung erfolgt, wenn die Studie im Erprobungszeitraum erfolgreich einen positiven Versorgungseffekt nachweisen konnte.

Für Kinder und Jugendliche gestaltet sich dieser Prozess besonders aufwendig: Häufig fehlen bereits vorhandene klinische Daten, sodass eigene Studien durchgeführt werden müssen, die strengen Vorgaben der MDR und des Medizinproduktedurchführungsgesetzes (MPDG) unterliegen. Studien mit Minderjährigen sind dabei ethisch und organisatorisch besonders anspruchsvoll.

Fazit: Chancen nutzen, Herausforderungen bewältigen

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) bieten großes Potenzial, um die psychische Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Sie könnten Versorgungslücken schließen, Wartezeiten verkürzen und jungen Menschen gezielt Unterstützung bieten – flexibel, ortsunabhängig und passgenau. Doch dieses Potenzial bleibt bisher weitgehend ungenutzt.

Wie dieser Artikel zeigt, stehen der Entwicklung und Implementierung von DiGAs für Kinder und Jugendliche große Hürden im Weg: Der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit, die hohen Anforderungen an Studien und Entwicklung, spezielle Risiken wie Datenschutz und die strengen regulatorischen Vorgaben machen die Umsetzung besonders anspruchsvoll. Diese Kombination aus hohen Anforderungen und Komplexität führt zu einer sehr geringen Anreizsituation für Hersteller und Entwickler: Die Zielgruppe ist kleiner und schwerer zu erreichen, während die Kosten und Risiken hoch und unkalkulierbar sind.

Das aus dieser Situation resultierende fehlende Angebot steht der hohen Nachfrage von Kindern und Jugendlichen nach digitalen Angeboten gegenüber. Diese Lücke birgt die Gefahr, dass unregulierte Apps zur ersten Wahl werden – Angebote, die keine Anforderungen an Wirksamkeit, Sicherheit oder Datenschutz erfüllen. Für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen könnte dies eine digitale Fortsetzung der bestehenden Unterversorgung bedeuten. Dass gleichzeitig immer mehr DiGAs für Erwachsene zugelassen werden, wirkt für Kinder und Jugendliche, die auch per Gesetz ein Recht auf digitale Gesundheitsversorgung hat, benachteiligend.

Um dieses Problem zu lösen, braucht es eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten: Wissenschaftler*innen, Behandler*innen, Entwickler*innen, Politik und Krankenkassen. Nur durch gezielte finanzielle Förderung, praxisnahe Unterstützung bei der Zulassung und klare Anreize für die Entwicklung können DiGAs ihr volles Potenzial entfalten. Das Ziel muss es sein, evidenzbasierte, sichere und altersgerechte digitale Angebote bereitzustellen, die den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht werden und die psychische Gesundheitsversorgung nachhaltig verbessern.

Dr. Simon H. Kohl

Dr. Simon H. Kohl ist Psychologe und Neurowissenschaftler. Nach seinem Studium der Psychologie an der Universität des Saarlandes und der TU Dresden promovierte er an der RWTH Aachen zu innovativen neurofeedbackbasierten Ansätzen. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der RWTH Aachen sowie am Forschungszentrum Jülich. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung innovativer Ansätze und die evidenzbasierte Implementierung von eHealth zur Verbesserung der psychischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Parallel absolviert er die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten am DGVT Ausbildungszentrum in Berlin.