Nicht nur bei körperlichen Beschwerden wird „Dr. Google“ befragt. Zunehmend wächst auch der Markt an digitalen Hilfsangeboten für psychische Störungen. Was bedeutet das für Patient*innen und Therapeut*innen? Prof. Dr. Christiane Eichenberg und Dr. Felicitas Auersperg beleuchten in ihrem Buch „Digitale Selbsthilfe bei psychischen Störungen“ Vor- und Nachteile der Entwicklung sowie die Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung, wenn Patient*innen parallel zur Psychotherapie solche Anwendungen nutzen. Im Interview sprechen Sie über Trends, Gefahren und Chancen und wie man als Therapeut*in Fallstricke umgeht.
In vielen Bereichen hat die Pandemie uns gezwungen, auf digitale Angebote zurückzugreifen. Sind hier in der Psychotherapie eher Defizite zutage getreten oder war man verhältnismäßig gut aufgestellt?
Die COVID-19-Pandemie führte zu einer starken Trendwende in der Psychotherapie: Während vor Corona Psychotherapie im digitalen Setting z.B. in Österreich gar nicht erlaubt und in Deutschland kontingentiert war, kam es durch die Pandemie zu einem Digitalisierungsschub. So entschieden sich basierend auf einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung im April 2020, 73% der befragten Psychotherapeut*innen kurzfristig für den Wechsel ins Videosetting, obwohl 59% der Befragten die Wirksamkeit der videobasierten Behandlung, im Vergleich zum traditionellen Face-to-face-Setting, als schlechter einschätzten. Zudem nutzten 95% derjenigen, die coronabedingt ad hoc auf das Videosetting umgestiegen sind, diese Technologie zum ersten Mal. Wir können also sagen: vorbereitet waren die meisten Kolleg*innen nicht, die meisten führten videobasierte Therapien ohne fundierte Fort- oder Weiterbildung durch. Dennoch wurden überwiegend positive Erfahrungen gemacht – therapeuten- wie patientenseits, so dass Studien eine Einstellungsänderung gegenüber digitalen Therapien festgestellt haben und rund 9 von 10 Therapeut*innen sich auch nach der Pandemie eine Flexibilisierung des traditionellen Settings wünschen. Wichtig erscheint uns, dass jedoch Weiterbildungen obligatorisch besucht werden sollten, um die Qualität von Psychotherapie auch im digitalen Setting zu sichern, denn feststeht: Psychotherapie im Videosetting weist Besonderheiten und Herausforderungen für das therapeutische Paar, die therapeutische Beziehung und den therapeutischen Prozess auf, was fundiertes Wissen und Reflexion benötigt.