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Entspannungsmethoden in der psychotherapeutischen Praxis

Von Prof. Dr. Andrea Chmitorz und Prof. Dr. Thomas Heidenreich.


Kulturgeschichtlich entwickelten Menschen vielfältige informelle und systematische Strategien, um Entspannung zu erlangen. Die Entwicklung moderner Entspannungsmethoden ist komplex und bezog sich häufig auf Verfahren, die wie z.B. Meditation oder Yoga in der östlichen Tradition stehen oder, wie die Hypnose, Vorläufer psychotherapeutischer Ansätze darstellen. Während in der Antike und im Mittelalter „suggestive/meditative hypnoseähnliche Methoden“ Anwendung fanden, wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts weitere Ansätze entwickelt, welche unter Begriffen wie Hypnose oder Suggestion bekannt wurden. Die im 20. Jahrhundert entwickelten Entspannungsmethoden, die progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson (1929) sowie das Autogene Training (AT) nach Schulz (1932) zählen zu den heute gebräuchlichsten Methoden.

Entspannungsmethoden in der Psychotherapie

Beide Ansätze verstanden sich zunächst als eigenständige Behandlungsverfahren, wurden jedoch frühzeitig in komplexere psychotherapeutische Behandlungen integriert. In Deutschland sind sie unter dem Begriff „Übende Verfahren“ im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen enthalten. Die Leistungen dürfen unter anderem durch psychologische Psychotherapeut*innen erbracht werden, die über einen Fachkundenachweis in einem der Richtlinienverfahren verfügen, sowie Ärzt*innen, mit einer Zulassung auf dem entsprechenden Gebiet, wie z.B. Psychiatrie und Psychotherapie. Neben dem ambulanten wie auch stationären Setting finden Entspannungsverfahren auch Anwendung in der Prävention und der Rehabilitation. Sie können sowohl als Maßnahmen in der betrieblichen Gesundheitsförderung sowie der Primärprävention eingesetzt und von den Krankenkassen bezuschusst werden, sofern von den Anbieter*innen entsprechende Qualifikationsnachweise vorliegen.

Entspannung als aussichtsreiches Therapieelement

In der psychotherapeutischen Praxis werden Entspannungsmethoden stets nach einer klaren Indikationsstellung und auf der Basis einer individuellen Fallkonzeption eingesetzt. Dem zu Grunde liegt ein mit der Patientin bzw. dem Patienten gemeinsam entwickeltes Störungsmodell, welches die Rolle (chronischer) Anspannung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der zu behandelnden Störung bzw. Krankheit deutlich macht. Aus diesem Modell leitet sich die Sinnhaftigkeit eines systematischen Vorgehens zum Erlernen von Entspannungszuständen ab. Vor Aufnahme in den Therapieplan ist zu klären, ob auf der Basis aktueller Evidenzen davon auszugehen ist, dass Entspannung überhaupt ein aussichtsreiches Therapieelement darstellt. Die Vermittlung von Entspannungsmethoden kann im Rahmen der Einzel- oder Gruppentherapie stattfinden und durch Medien wie CDs oder MP3s mit Entspannungsübungen oder Entspannungs-Apps ergänzt werden. Hervorzuheben ist, dass die Entspannungsübungen, um effektiv zu sein, in der Regel auch außerhalb der Therapie in den Alltag zu integrieren sind und mehrmals wöchentlich zwischen den Therapiesitzungen geübt werden müssen.

Entspannungsmethoden: wann und wie?

Für die Therapieplanung ist zu klären, an welcher Stelle der Therapie Entspannung eingeführt werden soll – die Entscheidung darüber hängt unter anderem davon ab, ob die Entspannungsfertigkeiten für spätere Therapieelemente zur Vorbereitung notwendig sind oder ob sie im Rahmen der Rückfallprophylaxe erneuten spannungsinduzierten Rückfällen vorbeugen sollen.

Entspannungsmethoden werden begleitend bei einer Vielzahl von therapeutischen Ansätzen und Störungsbildern eingesetzt. Die Indikation ergibt sich häufig aus der subjektiven Einschätzung der zu behandelnden Person. Besonders zu Beginn des Trainings ist eine hohe Eigenmotivation der Patient*innen von Bedeutung. Weitere wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche Anwendung von Entspannungsmethoden sind die Fähigkeit zur Konzentration und angemessener Mitarbeit, sowie zur wiederholten Übung und zum sozialen Kontakt.

Obwohl Entspannungsmethoden vielfältige Anwendungsbereiche haben, gibt es spezifische Aspekte sowie Störungsbilder, bei denen aufgrund der Hintergründe bzw. störungsspezifischen Charakteristik kein Behandlungseffekt oder sogar eine Schädigung zu erwarten ist bzw. Entspannungsmethoden zur Verstärkung der Symptomatik beitragen können. Eine Kontraindikation besteht bei:

  • Ausgeprägter Angst vor Kontrollverlust
  • Sexuellen Missbrauchserfahrungen
  • Akuten Psychosen
  • Schweren depressiven Episoden
  • Manischen Episoden
  • Panikstörungen sowie Hypochondrie, da bei erhöhter Interozeption vermehrt Panikattacken bzw. neue körperliche Missempfindungen auftreten können
  • Dissoziativen Störungen
  • Depersonalisationssyndrom
  • Schwerster Intelligenzminderung
  • Bei Zwangsstörungen besteht die Gefahr einer anankastischen Übersteigerung der Entspannungsroutinen

Bei körperlichen Erkrankungen sollte im Einzelfall geprüft werden, ob Entspannungsmethoden für die Patient*innen durchführbar sind.

Außerhalb des psychotherapeutischen Settings werden Entspannungsmethoden häufig im Rahmen betrieblicher Gesundheitsförderung oder im Rahmen der Präventionsangebote der Krankenkassen angeboten. Es gibt zahlreiche Selbsthilfebücher, Apps und CDs, deren wissenschaftliche Fundierung jedoch unterschiedlich ausgeprägt ist und kritisch geprüft werden sollte.

Wie die Durchführung von Entspannungsmethoden gelingt

So „einfach“ die Entspannungsmethoden auf den ersten Blick wirken: Es handelt sich nicht um „Selbstläufer“. Eine regelmäßige Übungspraxis ist essenziell für den Erfolg von Entspannungsmethoden. Hinsichtlich der Durchführung gibt es einige Aspekte, die zum Gelingen beitragen können. Idealerweise wird die Entspannungsmethode in einem separaten Raum mit angenehmem Raumklima in sitzender oder liegender Position durchgeführt. Folgende Hürden werden dabei insbesondere zu Beginn der Übungspraxis häufig berichtet:

  • Konzentrationsschwierigkeiten: Gerade in den ersten Wochen der Übungspraxis berichten Patient*innen häufig über Schwierigkeiten, sich auf die Instruktionen zu konzentrieren. Gedanken schweifen stattdessen z.B. zur mentalen To-Do-Liste oder möglichen Konfliktthemen aus dem Alltag ab.
  • Schwierigkeiten, eine regelmäßige Übungspraxis im Alltag zu etablieren: Eine Entspannungsmethode zu erlernen, kann auch bedeuten, den bisherigen Zeitplan zu verändern. Gerade in den ersten Wochen der Übungspraxis kann der Eindruck entstehen, nicht ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben.
  • Störungen durch das Umfeld
  • Extreme Müdigkeit oder Einschlafen während der Durchführung

In der Praxis hat es sich bewährt, diese Hürden im Rahmen der Behandlung proaktiv und frühzeitig zu thematisieren und gemeinsam mit der Patientin bzw. dem Patienten nach Lösungsansätzen zu suchen. Bestehen Schwierigkeiten die regelmäßige Übungspraxis in den Alltag zu etablieren, kann beispielsweise eine Veränderung der Priorisierung unterstützend wirken. 

Unerwünschte Wirkungen und Nebenwirkungen von Entspannungsmethoden

Neben bestehenden Kontraindikationen können mit Entspannungsmethoden auch unerwünschte Wirkungen und Nebenwirkungen auftreten. Diese können beispielsweise entspannungsinduzierte Angst oder Panik sowie ein paradoxer Spannungsanstieg sein (Lazarus und Mayne, 1990). Häufig ist zu beobachten, dass die Angstsymptome durch Anwendung von Desensibilisierung bei fortschreitender Übung abnehmen. Auch die Therapiebeziehung sowie die Stimme der therapierenden Person können zur Entstehung von Angst beitragen. Kompetitive oder perfektionistische Tendenzen seitens der Patient*innen stellen eher hinderliche Faktoren für die Durchführung von Entspannungsmethoden dar (Lazarus und Mayne, 1990). Weiterhin können, je nach Methode, vereinzelt muskuläre Verspannungen auftreten.

Anwendung und Weiterentwicklung der Entspannungsmethoden

Entspannungsmethoden finden auch bei Patient*innen im Kindes- und Jugendalter Anwendung. In der Literatur finden sich verschiedene Modifikationen der etablierten Entspannungsmethoden, wie PMR oder AT. Weiterhin gibt es eine Reihe von Entspannungsmethoden, die auf imaginativen Ansätzen beruhen. Zu nennen seien hier beispielhaft das Schildkröten-Fantasie-Verfahren (Petermann & Petermann, 2020) sowie Kapitän-Nemo-Geschichten (Petermann, 2019).

Entspannungsmethoden wurden vielfach wissenschaftlich evaluiert und zeigen für eine Vielzahl von Anwendungsbereichen eine gute Wirkung. Es liegen eine Vielzahl empirischer Studien und Metaanalysen für die einzelnen Entspannungsmethoden hinsichtlich verschiedener körperlicher und psychischer Störungen vor (eine Übersicht findet sich bei Heidenreich und Chmitorz, 2022)

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Entspannungsmethoden in verschiedenen präventiven und heilkundlichen Kontexten und Altersgruppen Anwendung finden. Entspannungsmethoden werden hierbei nicht als alleinige Therapie angewandt, sondern in einen Behandlungsplan integriert. Entspannungsmethoden sollten nun dann Anwendung finden, wenn der psychophysiologische, somatische und kognitive Effekt mit den Therapiezielen vereinbar ist. Um mögliche Misserfolgserlebnisse oder Therapieabbrüche zu vermeiden, sollten Entspannungsmethoden nur bei denjenigen Personen in den Behandlungsplan integriert werden, bei denen die Erfolgsaussichten aufgrund störungsspezifischer und anderer Faktoren gut sind. Dies sollte auch im primärpräventiven Kontext berücksichtigt werden. Eine unzureichende Vorbereitung und Motivation sowie ein zu breiter Einschluss kann dazu führen, dass die an sich hilfreichen Entspannungsmethoden vorschnell als unwirksam erlebt werden. Entspannungsmethoden haben zum Teil eine sehr lange Forschungshistorie und werden bis zum heutigen Tag weiterentwickelt und für die Anwendung bei verschiedenen Zielgruppen oder der Therapie unterschiedlicher Störungsbilder modifiziert. Somit sind auch in der Zukunft Weiterentwicklungen und neue Impulse zu erwarten. 

Literatur:

Jacobson, E. (1929). Progressive Relaxation. University of Chicago Press.

Lazarus, A. A. & Mayne, T. J. (1990). Relaxation: Some limitations, side effects, and proposed solutions. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, 27(2), 261-266.

Petermann, U. (2019). Die Kapitän-Nemo-Geschichten. Geschichten gegen Angst und Stress (20. Auflage). Göttingen: Hogrefe.

Petermann, U. & Petermann, F. (2020). Aggressives Verhalten. In F. Petermann (Hrsg.), Entspannungsverfahren. Das Praxishandbuch (6. Auflage, S.  359 - 384). Weinheim: Beltz.

Schultz, J. H. (1932). Das Autogene Training. Konzentrative Selbstentspannung. Versuch einer klinisch-praktischen Darstellung. Thieme.

Prof. Dr. Andrea Chmitorz

Prof. Dr. Andrea Chmitorz, geb. 1980. 2003-2009 Studium der Psychologie (Diplom) an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und der University of Warwick in Coventry, Großbritannien. 2009-2010 Master of Public Health an der University of Cardiff, Großbritannien. 2010-2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Epidemiologie am Institut für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Lehrstuhl für präventive Pädiatrie der Technischen Universität München. 2013 Promotion. 2012-2014 Epidemiologin bei der Boehringer Ingelheim GmbH. 2014-2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsmedizin Mainz, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. 2015-2019 Weiterbildung zur psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) an der Poliklinischen Institutsambulanz der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. 2019 Approbation. Seit 2019 Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Esslingen. Arbeitsschwerpunkt: Resilienzforschung.

Prof. Dr. Thomas Heidenreich

Prof. Dr. Thomas Heidenreich, geb. 1966. 1994 bis 1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Frankfurt. 1997-2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Frankfurt. 2004 bis März 2006 Leiter der Verhaltenstherapie-Ambulanz und Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Psychologie der Universität Frankfurt. Psychologischer Psychotherapeut (1999), Supervisor (2002). Seit April 2006 Professur „Psychologie für Soziale Arbeit und Pflege“ an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege an der Hochschule Esslingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind kognitiv-behaviorale Ansätze bei psychischen Störungen (insbesondere Soziale Ängste und Depression), achtsamkeitsbasierte Ansätze in der Psychotherapie, Bewältigung schwieriger Therapie- und Beratungssituationen.

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