Moral- und Wertevorstellungen in der Therapie
Was tun, wenn sich moralische Werte kulturell unterscheiden? Wenn ein muslimischer Patient bei einer freiwilligen Behandlung in einer Klinik z.B. darauf besteht, nur von einem Mann behandelt zu werden?
Die zentrale Frage ist, wie weit sich Psychotherapeuten an andere Moral- und Wertevorstellungen anpassen sollen. Kultur kann als Aggregat geteilter Bedeutungen und Symbolsysteme wie Sprache, regionale Herkunft, religiöser oder sozialer Hintergrund verstanden werden, die ein soziales Leben erst möglich machen. In der Psychotherapie ist daher ein minimaler gemeinsamer Nenner bezüglich der moralischen Werte von Therapeuten und Patienten notwendig.
Psychotherapie ist jedoch nie nur eine Interaktion zwischen Therapeut und Patient, sondern findet inmitten der Gesellschaft statt; dies gilt insbesondere für Psychotherapie innerhalb einer Klinik. In einer offenen Gesellschaft hat sich deshalb auch die Psychotherapie an zentralen Grundsätzen wie Gleichberechtigung der Geschlechter oder Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu orientieren. Werden von Patienten zentrale Werte missachtet und äußern sie sich beispielsweise immer wieder rassistisch, sexistisch oder diskriminierend, ist dies eine Intoleranz, die nicht toleriert werden darf. Jeder Psychotherapeut sollte sich daher überlegen, wo die Grenzen seiner Toleranz liegen.
Um auf das Beispiel in der Frage zurückzukommen: Wenn sich ein muslimischer Patient einen Mann als hauptverantwortlichen Psychotherapeuten wünscht, kann dies wohl meistens ermöglicht werden. Die Voraussetzung ist aber, dass er dem ganzen Team trotzdem respektvoll begegnet, insbesondere auch den weiblichen Fachpersonen. Falls ein Patient sich nicht daran hält, kann dieser Umstand als Anlass genommen werden, mit ihm interkulturelle Differenzen zu diskutieren, um einen verbindlichen "Modus operandi" für den Klinikaufenthalt zu finden. Ist dies nicht machbar, ist eine stationäre Weiterbehandlung auf freiwilliger Basis nicht möglich.
Eine unfreiwillige Klinikeinweisung kann die therapeutische Beziehung zum Patienten sehr belasten. Wie kann man abwägen, ob diese Maßnahme notwendig ist?
Grundsätzlich ist die Selbstbestimmung einer Person ein verfassungsmäßig garantiertes Recht und ein Leitprinzip medizinischer Ethik.
Eine unfreiwillige Klinikeinweisung ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte einer Person, die unter anderem durch die Bundesverfassung, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates gewährleistet sind. Zur Rechtfertigung einer Zwangsmaßnahme bedarf es deshalb neben der genauen Befolgung der gesetzlichen Anforderungen in jedem individuellen Fall einer sorgfältigen ethischen Reflexion.
Obwohl psychologische Psychotherapeuten unfreiwillige Klinikeinweisungen nach aktuell geltendem Recht nicht selbst vornehmen und die Einweisung letztlich durch einen Arzt veranlasst wird, sollte sich jeder Psychotherapeut vor dem Beiziehen eines Arztes die folgenden Fragen stellen:
- Für wen stellt die Situation ein Problem dar?
- Besteht Eigen- und/oder Fremdgefährdung?
- Was soll mit der unfreiwilligen Klinikeinweisung erreicht werden?
- Ist die unfreiwillige Klinikeinweisung geeignet, um die angestrebten Ziele zu erreichen?
- Erscheint die unfreiwillige Klinikeinweisung im Interesse der betroffenen Person zwingend nötig oder ist sie unverhältnismäßig?
- Sind alle weniger einschneidenden Maßnahmen bereits erfolglos eingesetzt oder auf ihre Eignung hin überprüft worden?
Wie kommt es, dass ein so wichtiges Thema wie Ethik in Psychotherapie-Weiterbildungsgängen so wenig Raum einnimmt? Besteht nicht auch "Übungsbedarf" im Umgang mit ethisch schwierigen Situationen?
Jeder Psychotherapeut wird in seinem Alltag unweigerlich mit ethischen Fragen, Problemen und Dilemmata konfrontiert, auf die es keine empirisch validierten Antworten gibt, da es in der Ethik eben gerade um (normative) Wertefragen geht, die über die rein beschreibende (deskriptive) empirische Ebene hinausgehen.
Umso wichtiger ist die ethische Reflexion, die Übung ethischer Argumentation anhand von Fallbeispielen und die Diskussion in der Gruppe mit anderen Psychotherapeuten. Ethische Grundlagen und Fallbesprechungen gehören deshalb in jeden Psychotherapie-Weiterbildungsgang und sollten von ausgewiesenen Fachpersonen unterrichtet werden. Dass Ethik bisher kaum ein integraler Teil von Psychotherapie-Weiterbildungsgängen ist, könnte unter anderem daran liegen, dass primär empirisch validierte „facts“ unterrichtet werden, um die Akkreditierung als Weiterbildungsgang zu erhalten, und dass Ethikkompetenzen als optionale "soft skills" betrachtet werden. Ethikkompetenzen sind jedoch nicht optional, sondern für gute Psychotherapie zwingend notwendig.