Familienprobleme im Jugendalter bewältigen – das SELBST Therapieprogramm
Familiäre Auseinandersetzungen zu Themen wie Medienkonsum, schulische Leistungen oder häusliche Verpflichtungen gehören zur Entwicklung Jugendlicher dazu. Treten jedoch gleichzeitig psychische Erkrankungen auf, kann die Bewältigung dieser Konflikte zur Herausforderung werden und die Familienbeziehungen erheblich belasten. Im Band „Familienprobleme im Jugendalter“ aus dem SELBST-Therapieprogramm werden systemisch-behaviorale Interventionsansätze vorgestellt, um gemeinsam mit Eltern und Jugendlichen ein Verständnis für die Konfliktdynamik zu entwickeln und konstruktive Zielvereinbarungen zu fördern. Im Gespräch beantworten uns Dr. Christiane Rademacher und Prof. Dr. Manfred Döpfner Fragen zum Band und zum Therapieansatz.
Das Buch «Familienprobleme im Jugendalter» ist der neue, vierte Band aus der SELBST-Reihe. Was verbirgt sich hinter dem SELBST-Therapieprogramm, wofür steht es?
Das SELBST-Therapieprogramm ist bisher als Grundlagenband, als Therapiemanual für Leistungsprobleme, für Gleichaltrigenprobleme und nun für Familienprobleme im Jugendalter erhältlich. Es steht für einen störungsübergreifenden Therapieansatz in der Behandlung von Jugendlichen im Alter von 13-18 Jahren mit Selbstwert- Leistungs- und Beziehungsproblemen. In der Tradition des Selbstmanagement-Ansatzes nach Kanfer et al, stehen weniger die Diagnosen der Jugendlichen, sondern stärker die konkreten Problembereiche und hier der ressourcenorientierte Aufbau von Änderungsmotivation und Selbstwirksamkeit bei Jugendlichen im Vordergrund. In der therapeutischen Praxis werden häufig Jugendliche vorgestellt, die zwar einen Strauss von Problemen und Symptomen präsentieren, durchaus auch belastet sind, aber dennoch Schwierigkeiten haben, sich aktiv und motiviert auf psychotherapeutische Interventionen einzulassen. Deshalb wird den ersten vier Phasen dieses Ansatzes viel Wert auf die Bildung einer therapeutischen Allianz mit Jugendlichen gelegt, vor deren Hintergrund sie bewusst Probleme und Ziele abwägen können, um sich dann im besten Fall aktiv für bestimmte Interventionen zu entscheiden. Bei Familienproblemen stehen zusätzlich auch Änderungsmotivation und Selbstwirksamkeit der Eltern sowie Ressourcen der ganzen Familie im Behandlungsfokus, die im Rahmen eines gemeinsamen Störungsmodells und gemeinsamen Zieldefinitionen lösungsorientiert erarbeitet werden.
Kann der Band auch einzeln genutzt werden, ohne Kenntnis der anderen Bände?
Ja, dieser Band kann, wie alle anderen Bände, auch einzeln genutzt werden. Während Band 1 das problemübergreifende therapeutische Vorgehen mit den Jugendlichen unter Einbezug der relevanten Bezugspersonen differenziert beschreibt, wird in den übrigen Bänden das Vorgehen bezogen auf die spezifischen Störungsbereiche zusammenfassend beschrieben. Somit hat jeder Band einen gewissen Umfang. Wir hoffen aber, dass die Ähnlichkeit im konzeptuellen Vorgehen der SELBST-Bände hilfreich ist, zudem sich eine Kombination von Bausteinen aus den verschiedenen Bereichen häufig anbietet.
An wen wendet sich das Therapieprogramm, sind die Adressaten eher die Jugendlichen, die Eltern oder beide Gruppen gleichermaßen?
Grundsätzlich stehen die Jugendlichen im SELBST-Therapieprogramm mit Ihren Problemen und Bedürfnissen initial und auch im Verlauf im therapeutischen Fokus. Je nach Problem- und Zielsetzung werden aber Eltern, Gleichaltrige, Lehrer*innen als wichtige Bezugspersonen und Informationsgeber*innen transparent mit einbezogen. Bei der Behandlung von Familienproblemen wird schon zu Beginn der Therapie vermittelt, dass sowohl Eltern als auch Jugendliche gleichermaßen in die Therapie miteinbezogen werden sollen, um Veränderungen im familiären Miteinander zu erreichen. Sollten sich die Eltern aber nicht einbinden lassen, können die Bausteine ein wenig abgewandelt auch im Einzelkontakt mit den Jugendlichen eingesetzt werden, z.B. indem man ihre Konfliktlösekompetenzen stärkt und sie unterstützt, ihre Bedürfnisse in der Familie wirksam zu adressieren.
Wie werden im Manual «Familienprobleme» definiert, wie äußern sich diese in Familien und welche familiären Strukturen und Denkweisen sind dabei besonders problemaufrechterhaltend?
In dem vorliegenden Manual werden Familienprobleme vor allem durch das Vorliegen von Eltern-Jugendlichen-Konflikten bestimmt. Diese werden dann als behandlungsbedürftig erachtet, wenn sie über längere Zeit gehäuft auftreten und es trotz vielfacher Versuche und oft hohem emotionalen Engagement in der Familie nicht zu einer Klärung von Problemen und einem adäquaten Austausch von Bedürfnissen unter den Beteiligten kommt. In der Praxis berichten die Familienmitglieder oft, dass sie bei Problemen „einfach nicht miteinander sprechen“ können, dass es sehr schnell zu Streit kommt und es Ihnen nicht gelingt, Lösungen in Ruhe zu erörtern und gemeinsam auf den Weg zu bringen. Häufig hat sich eine gewisse Frustration und teils auch Entfremdung zwischen einzelnen oder auch mehreren Beteiligten eingestellt. Wenn sich die Familienmitglieder dann noch im Sinne weiterer Konfliktvermeidung aus dem Weg gehen, stellt sich zusätzlich noch ein Mangel an gemeinsamen positiven Erlebnissen ein, der die Beziehungen weiter beschwert. Dies ist insbesondere für Jugendliche mit einer psychischen Störung schwierig, die vielleicht noch stärker als andere Jugendliche auf die familiäre Unterstützung angewiesen sind.
Ungünstige Strukturen und Prozesse, die Familienprobleme im Jugendalter bedingen, sind häufig bereits im Kindesalter vorzufinden. Die Entwicklungsaufgaben im Jugendalter werden vor diesem Hintergrund unterschiedlich gut bewältigt. Schwierig wird es, wenn die Eltern eine mangelnde Übereinstimmung in Erziehungsfragen aufweisen, teils auch weil sie sich von der veränderten Rolle gegenüber einem jugendlichen Kind verunsichert fühlen. Starre Koalitionsbildungen in der Familie, aber auch die Schwierigkeit eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation in der Eltern-Jugendlichen-Beziehungen herzustellen, können sich negativ auf das gemeinsame Problemlösen auswirken. Sowohl Eltern als auch die Jugendlichen können über die Zeit Bewertungen und Denkweisen im familiären Miteinander entwickelt haben, die wenig hilfreich sind und Konflikte stabilisieren. Schließlich ist es herausfordernd in der Familie ruhig, wertschätzend und lösungsorientiert zu kommunizieren.
Bei Familienproblemen ist der Beziehungsaufbau für die Therapierenden sowohl zu den Jugendlichen als auch zu den Eltern von zentraler Bedeutung. Was gibt es hier zu beachten?
Wenn man Konflikte zwischen Eltern und Jugendlichen moderieren will, kann dies nur gelingen, wenn sich alle Beteiligten von den Therapeut*innen ausreichend gesehen und verstanden fühlen. Es gilt also im Sinne der therapeutischen Neutralität zu vermeiden, sich auf die Seite einer bestimmten Partei zu stellen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang klare Informationen zur therapeutischen Schweigepflicht und ein sehr transparentes Vorgehen gegenüber allen Beteiligten. Schwierigkeiten im therapeutischen Vorgehen werden am Ende jeden Bausteins aufgegriffen und behandelt. Prinzipiell sollte das therapeutische Bemühen darin liegen, jede Partei zu ermuntern, ihre Sicht mit graduierter therapeutischer Unterstützung in gemeinsamen Gesprächen offen in Austausch zu bringen.
SELBST arbeitet mit systemisch-behavioralen Konzepten, was versteht man darunter?
Dies ein Ansatz, der systemische und verhaltenstherapeutische Perspektiven integriert. Familienprobleme werden als ein Ergebnis von Wechselwirkungen innerhalb des sozialen Systems Familie verstanden. Auch wenn die Jugendlichen mit individuellen Schwierigkeiten kommen, die sich schließlich auch in einer Diagnose ausdrücken, stehen bei Familienproblemen Merkmale der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Jugendlichen im Vordergrund. So werden beispielsweise die Ebenen von Nähe und Distanz sowie bestimmte Koalitionsbildungen in den verschiedenen Perspektiven analysiert und untersucht, inwieweit diese eine Rolle bei der Entstehung und Chronifizierung von Problemen spielen. Zugleich werden bestimmte Überzeugungen bei Eltern und Jugendlichen herausgearbeitet und kognitiv hinterfragt, sowie bestimmte Kompetenzen, z.B. in der Erziehung oder auch gemeinsam in der Kommunikation verhaltenstherapeutisch trainiert.
Wie ist das Programm SELBST Familienprobleme aufgebaut?
Es folgt dem Aufbau der anderen Bände. In der ersten Phase steht das Screening der Eingangsbeschwerden und der Beziehungsaufbau zu Jugendlichen und Eltern im Vordergrund. Danach folgt eine diagnostische Phase, in der Probleme und Kompetenzen der Familienmitglieder in Bezug auf die aktuelle Familiensituation erhoben werden. In der dritten Phase sollen schließlich die vorliegenden Probleme in der Familie durch alle Beteiligten genauer analysiert werden, um dann erst individuell und schließlich zusammen ein Störungsmodell der vorliegenden Probleme zu erstellen. In Phase 4 werden mögliche Ziele genau unter die Lupe genommen und miteinander verhandelt. Die Änderungsmotivation wird ggf. durch Motivational Interviewing gestärkt. Erst dann kommt es zu einer konkreten Interventionsplanung, wo die unterschiedlichen Bausteine aus SELBST-Familienprobleme zum Einsatz kommen können. Diese werden danach ausgewählt, welche Faktoren im Störungsmodell jeweils als problembedingend und/oder aufrechterhaltend in der Familie identifiziert wurden. Dies können dysfunktionale kognitive Annahmen sowohl bei Eltern als auch bei Jugendlichen sein, aber auch übergeordnete ungünstige familiäre Strukturen und -prozesse wie beispielsweise eine schwache elterliche Koalition, eine mangelnde Abgrenzung zwischen Eltern und Jugendlichen, unangemessene Nähe oder Distanz in bestimmten Beziehungen. In vielen Fällen profitieren die Eltern von einer ausführlichen Beratung hinsichtlich ihrer komplexen Rolle als Erziehende gegenüber dem adoleszenten Kind und von der Vermittlung förderlicher Erziehungsstrategien im Jugendalter. Weitere Therapiebausteine zielen auf eine verbesserte Affektregulation sowie die Stärkung von Kommunikations- und Problemlösefertigkeiten durch konkrete Trainings mit der ganzen Familie. Fast immer geht es um Stärkung oder den Wiederaufbau von Beziehungsressourcen im Familiensystem.
Können die Therapiebausteine in einer anderen Reihenfolge genutzt werden? Welche Bausteine würden Sie als besonders grundlegend beurteilen?
Tatsächlich ist die Reihenfolge der Bausteine nicht festgelegt. Als grundlegend erachten wir die Stärkung positiver Beziehungselemente in der Familie. Stunden, in denen über die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (Psychoeduaktion) mit Eltern als auch Jugendlichen gesprochen wird, erweisen sich oft als Türöffner, um vielleicht auch weniger hilfreiche kognitive Annahmen herauszuarbeiten, zudem auch mit den Eltern über ihre Aufgaben in der neuen Lebensphase reflektiert werden kann. Sehr häufig gelingt es sowohl Jugendlichen als auch Eltern nicht, eine wertschätzende Kommunikation miteinander zu führen, so dass erst ein Kommunikationstraining vor dem Problemlösetraining erfolgen sollte. Hier liegt die Betonung auf Training: Verbesserungen stellen sich nur ein, wenn über die Informationsvermittlung zu guter Kommunikation hinaus auch in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden häufig und mit therapeutischer Unterstützung konkret geübt wird.
Es stehen viele Materialien zur Verfügung, auch eine App, die JAY-App, kann einbezogen werden, wozu dient diese?
Allen SELBST Bänden ist gemein, dass sie entsprechend der Therapiethemen diverse Arbeitsblätter für den Einsatz in- und außerhalb der Therapiestunde anbieten. Insbesondere mit dem «Job der Woche» werden Jugendliche und auch Eltern häufig per Arbeitsblatt animiert, die Therapieinhalte in Ihren Alltag zu übertragen. Die JAY-App, eigens für Jugendliche konzipiert, beinhaltet neben Informationen über einige Störungsbilder, viele sinnvolle Feedbackoptionen (verbal oder per Video), die auf dem Mobiltelefon unkompliziert bearbeitet werden können. Diese Zugänge, gepaart mit der Möglichkeit das Videoformat grundsätzlich stärker in die Therapie zu integrieren, erhöhen aus unserer Sicht die Effektivität von Interventionen im konkreten Familienalltag.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Dr. Christiane Rademacher
Dr. rer. medic. Christiane Rademacher, geb. 1965. Von 1987–1993 Studium der Psychologie in Köln. Seit 1993 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters; 1998 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin, 2001 Abschluss einer psychotherapeutische Zusatzausbildung in Verhaltenstherapie an der Akademie für Verhaltenstherapie (AVT) Köln, 2003-2021 gemeinsam mit Prof. D. Walter Leitung der verhaltenstherapeutischen Ambulanz für Jugendliche am Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Universität Köln (AKIP), 2012 Promotion; seit 2021 Leitung der verhaltenstherapeutischen Schwerpunktambulanz für Externale Störungen, Dozentin und Supervisorin bei verschiedenen Ausbildungsinstituten.
Prof. Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Manfred Döpfner
Prof. Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Manfred Döpfner ist seit 1989 Leitender Psychologe an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln und dort seit 1999 Professor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- Jugendlichenpsychotherapie (AKiP).