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Herausforderndes Verhalten: Hinter die Fassade blicken

Schreien, ständiges Rufen und aggressives Verhalten von Menschen mit Demenz können für Mitarbeitende, aber auch Angehörige und Mitbewohnende sehr herausfordernd sein. Es lohnt zu entschlüsseln, was sich hinter diesem Verhalten verbirgt, sagt Demenzexperte André Hennig. Oft sind körperliche Ursachen oder nicht erfüllte Bedürfnisse die auslösenden Gründe für das herausfordernde Verhalten. Ein Interview mit André Hennig

Herr Hennig, Sie sind als Demenzexperte in vielen Pflegeeinrichtungen vor Ort. Was belastet Pflegende im Kontakt mit Menschen mit Demenz besonders?
Ich erlebe meist, dass die Pflegenden eine hohe Kompetenz und viel Erfahrung im Umgang mit Demenz mit bringen und sie so schnell nichts an ihre Grenzen bringt. Belastend kann es für die Pflegenden aber sein, wenn Bewohnende in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Demenz apathisch und teilnahmslos werden. Dann fragen Pflegende sich häufig, wie sie am besten in Kontakt treten können, oder sind unsicher, ob die Menschen mit Demenz das überhaupt möchten. Zum anderen sind es natürlich die herausfordernden Verhaltensweisen, die von Pflegen den als belastend erlebt werden.

Agressivität, Weglaufen und Verweigern pflegerischer Maßnahmen

Was ist mit herausfordernden Verhaltensweisen genau gemeint?
Der Begriff kommt ursprünglich aus der Behindertenhilfe und meint Verhaltensweisen, die herausfordernd sind – und zwar für diejenigen, die Menschen mit Demenz umgeben, also vor allem Mitarbeitende, Angehörige und Mitbewohnende. Das sind zum Beispiel aggressive Verhaltensweisen, ständiges Rufen, Weg­ oder Hinlaufen, Verweigern von Nahrung, Medikamenten oder pflegerischen Maßnahmen, aber auch enthemmtes Verhalten, also wenn Bewohnende sich entkleiden, mit Kot schmieren oder in die Ecke urinieren. Auch Apathie und Teilnahmslosigkeit zählen zu herausfordernden Verhaltensweisen.

Werden Apathie und Teilnahmslosigkeit denn als herausfordernd erlebt?
Sie stören ja erstmal nicht. Genau, sie stören nicht. Aber wenn wir die Situation umdrehen und fragen: Was benötigen Menschen mit Demenz, die apathisch und teilnahmslos sind, dann wird deutlich: Diese Menschen brauchen sehr viel, und entsprechend sollten uns auch diese Verhaltensweisen herausfordern.

Überforderte Pflegende: Ursachen finden statt Rückzug und Abwendung

Was bedeutet es für die Mitarbeitenden, wenn Menschen mit Demenz sich herausfordernd verhalten?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich erlebe Mitarbeitende, die überfordert sind, weil sie unsicher sind, wie sie mit diesen Verhaltensweisen adäquat umgehen können. Sie können das Verhalten vielleicht nicht verstehen und sind mit dem, was sie bisher ausprobiert haben, an ihre Grenzen gekommen. Und natürlich überschreiten manche Verhaltensweisen auch die Grenzen der Integrität bei Mitarbeitenden, beispielsweise wenn es um aggressives Verhalten geht, um Spucken, Beleidigen, Kratzen oder Grapschen. Dann reagieren Mitarbeitende mit Rückzug, mit Ablehnung, mit Distanz, mit Abwertung usw. – wie Menschen eben reagieren, wenn ihre persönlichen Grenzen verletzt sind. Es gibt aber auch viele Mitarbeitende, die ein tiefes empathisches Verstehen haben und sich auf die Suche nach den Ursachen machen, die hinter diesem herausfordernden Verhalten stehen.

Schmerzen, Hunger Durst und soziale Bedürfnisse

Was können das für Ursachen sein?
Wir unterscheiden zwischen extrinsisch und intrinsisch motiviertem Verhalten. Eine extrinsische, also äußere Ursache für herausforderndes Verhalten kann beispielsweise ein unruhiges, störendes Umfeld sein. Es ist zu laut, zu warm oder kalt oder man ist im Kontakt mit Personen, die gegen den eigenen Willen etwas mit einem machen wollen, oder mit anderen Bewohnenden, die einen beleidigen. Dem gegenüber steht das intrinsisch motivierte Verhalten, das aus meiner Sicht häufiger die Ursache für herausforderndes Verhalten ist. Hier geht es um nicht erfüllte Bedürfnisse des Menschen mit Demenz. Der Bewohner hat zum Beispiel Schmerzen, Hunger, Durst, die Nacht zuvor schlecht geschlafen oder einen beginnenden Infekt. Auch soziale Bedürfnisse können der Grund sein.

Körperliche Bedürfnisse sind wichtig

Also der Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit?
Die Schlussfolgerung „Der braucht mehr Aufmerksamkeit“ ist oft der erste Reflex von Mitarbeitenden, wenn sich Bewohnende herausfordernd verhalten. Manchmal wünschen die Bewohnenden tatsächlich mehr Aufmerksamkeit – was auch ihr gutes Recht ist. Wir wissen aber aus Studien, dass die körperlichen Bedürfnisse, zum Beispiel nach Schmerzfreiheit, etwas häufiger der Grund für herausforderndes Verhalten sind als psychosoziale Bedürfnisse.

„Schmerzen sind unterschätzes Thema“

Sind Schmerzen bei Demenz häufig?
Gerade bei Demenz sind Schmerzen ein absolut unterschätztes Thema. Menschen mit Demenz haben zum einen Schwierigkeiten, Schmerzen zu identifizieren – sie merken zwar ein körperliches Unwohlsein, aber selten können sie es selbst als Schmerz erkennen oder sich dazu artikulieren. Oftmals zeigen Menschen mit Demenz bei Schmerz auch ein paradoxes Verhalten. Sie laufen zum Beispiel, obwohl sie einen Bewegungsschmerz haben. Das alles kann dazu führen, dass Schmerzen seltener erkannt werden und Menschen mit Demenz häufig unterversorgt sind oder weniger Schmerzmittel bekommen als Menschen, die keine Demenz haben.

Gründe systematisch erforschen

Wie kann ich als Pflegeperson herausfinden, ob es sich um eine körperliche oder psychosoziale Ursache handelt?
Eigentlich nur durch Ausprobieren. Durch reines Beobachten lässt sich das nur selten herausfinden. Man sollte immer wieder Verstehenshypothesen bilden und den Bewohnenden darauf aufbauend ein Angebot machen oder eine äußere Bedingung ändern. Und dann schauen, wie sie darauf reagieren. Es gibt ein sehr gutes Verfahren, um unbefriedigte Bedürfnisse systematisch abzuklären. Das Verfahren kommt aus Amerika und wurde an der Charité Universitätsmedizin Berlin von Thomas Fischer übersetzt und an deutsche Bedingungen angepasst: die Serial Trial Intervention, kurz STI.

Wie funktioniert das Verfahren?
Pflege- und Betreuungskräfte begeben sich dabei strukturiert auf die Suche nach den Gründen für das herausfordernde Verhalten. Sie beginnen zunächst, die körperlichen Bedürfnisse einzuschätzen. Das können Schmerzen, Hunger, Durst, kardiale Störungen, eine Verschlechterung bestehender Erkrankungen oder auch ein gerade beginnender Infekt sein. Im zweiten Schritt werden die affektiven Bedürfnisse in den Blick genommen, wie umgebungsbedingter Stress oder ein Mangel an menschlicher Interaktion. Lässt sich durch die ersten beiden Schritte das Verhalten nicht deutlich verbessern, folgt der dritte Schritt: Hier werden Angebote empfohlen wie Massagen und Berührung, Snoezelen, von denen wir wissen, dass sie gute Effekte zeigen. Wenn auch das nicht greift, wird verdachtsweise ein Schmerzmedikament verabreicht. Wenn alle bisherigen Schritte erfolglos waren, wird im letzten Schritt die versuchsweise Gabe eines Psychopharmakons oder eine neue Betrachtung im Team empfohlen.

„Es wird schnell zu Psychopharmaka gegriffen“

Wir erfolgreich ist dieses Verfahren? Sind Psychopharmaka dann überhaupt noch erforderlich?
Wir wissen aus Studien, dass sich die herausfordernden Verhaltensweisen über die Anwendung des STI signifikant reduzieren lassen. Aber das Thema Psychopharmaka ist dennoch brisant. Wir haben in Deutschland eine Kultur, dass bei herausforderndem Verhalten relativ schnell zu Psychopharmaka gegriffen wird. Dabei ist oft nicht klar: Wird das Medikament jetzt gegeben, um ein Leiden des Menschen mit Demenz selbst zu reduzieren oder das Leiden der Umwelt?

Können Psychopharmaka denn herausforderndes Verhalten reduzieren?
Nein, es gibt so gut wie keine Evidenz, dass Psychopharmaka das bewirken können. Eine medizinische Indikation für eine Psychopharmakon-Gabe besteht lediglich bei Aggressionen, hochgradiger Agitiertheit, Halluzinationen und Wahn. Bei allen anderen Verhaltensweisen wie Weglaufen, enthemmtes Verhalten oder Sich-Verweigern sind Psychopharmaka nicht indiziert. Dennoch werden in Pflegeeinrichtungen häufig Psychopharmaka gegeben, in Gerontopsychiatrien sogar fast immer.

Wann sollte die Gabe eines Psychopharmakons denn in Erwägung gezogen werden?
Wenn nach Durchlaufen des STI-Verfahrens noch immer ein Verhalten bleibt, das ein Leiden für die betroffene Person bedeutet, dann ist es durchaus berechtigt, über Psychopharmaka nachzudenken.

Neuroleptika: Nicht dauerhaft einsetzen

Was meinen Sie mit „Leiden für die betroffene Person“ konkret?
Wenn die Person einen inneren Leidensprozess hat, schmerzvolle biografische Themen hochkommen, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen auftreten oder die Betroffenen so agitiert sind, dass sie sich über den Tag müde laufen und keine Ruhe mehr finden. In der Regel werden Neuroleptika eingesetzt, das sind Medikamente, die man sonst bei Psychosen gibt. Wichtig ist, dass diese nicht dauerhaft gegeben werden – wir behandeln ja keine Psychose. Die medizinische Empfehlung lautet, dass das Medikament bei Demenz nach vier bis sechs Wochen ausgeschlichen werden sollte.

Wird das auch gemacht?
Nicht immer. Das Wissen der Hausärzte um diese Themen ist gering. In der Regel sind diese Menschen ja nicht mehr im Krankenhaus oder in der Gerontopsychiatrie, wo die Medikamente verschrieben wurden, sondern im Altenheim oder zu Hause. Oft besteht auch die Sorge, dass das Verhalten wieder auftritt, wenn das Medikament abgesetzt wird. Wichtig zu wissen, ist: Psychopharmaka sind nicht dazu da, das Leiden der Umwelt zu reduzieren. Hier haben wir die große Aufgabe vor uns, noch ein bisschen toleranter zu werden.

„ Pflegekräfte in überbordenden Sicherheitsanspruch verfangen“

In welchen Fällen sollten Pflegende toleranter werden und wann müssen sie eingreifen?
Manche Verhaltensweisen gefährden ja die Sicherheit des Bewohners oder sind sehr störend für andere Mitbewohnende. Grundsätzlich gilt zu erkennen, ob ein Risiko im Raum steht und wie schwerwiegend dieses ist, zum Beispiel: Besteht das Risiko, dass jemand die Einrichtung verlässt und sich im Straßenverkehr nicht mehr orientieren kann? Ist die Person zu dünn bekleidet und könnte erfrieren?
Ich erlebe, dass Pflegende oft in einem überbordenden Sicherheitsanspruch verfangen sind. Dieser kommt von Prüfbehörden und Angehörigen, wird aber auch von Führungskräften nach unten weitergegeben. In vielen Fällen geht er über das hinaus, was Pflegefachpersonen überhaupt zu verantworten haben.

Preis für Sicherheit ist oft Verlust von Freiheit

Aber wie sollten Pflegende konkret mit Risiken umgehen?
Sie sollten den Sicherheitsaspekt aus zwei Perspektiven betrachten: Wie können sie Menschen vor Risiken schützen? Und welchen Preis muss die Person für diese Sicherheit zahlen? Meist ist das der Preis der Freiheit. Und das gilt es, gut gegeneinander abzuwägen. Dies ist die Aufgabe der Pflegefachpersonen. Welcher Weg der richtige ist, entscheidet letztendlich die Betreuenden für die Betroffenen. Und hier dürfen auch in Pflegeeinrichtungen freiheitsorientierte Wege gewählt werden, die mit etwas höheren Risiken einhergehen. Grundsätzlich gelingt eine Abwägung der Risiken am besten, wenn Teams miteinander sprechen und diese Aufgabe nicht einer einzelnen Pflegeperson obliegt.

Erleben Sie denn, dass ein gemeinsames Abwägen in den Teams erfolgt?
Bei dem Thema freiheitsentziehende Maßnahmen tauschen sich die Mitarbeitenden meist sehr intensiv aus. Sie wissen, dass dieser Austausch letztendlich ihre professionelle Grundlage ist, auf der sie handeln. Bei anderen Aspekten, zum Beispiel enthemmtes Verhalten oder Verweigerung von Pflegemaßnahmen, habe ich den Eindruck, dass dies weniger in Fallbesprechungen thematisiert und diskutiert wird.

Umgang mit Menschen, die Maßnahmen verweigern

Was können Pflegende denn tun, wenn Bewohnende mit Demenz Maßnahmen verweigern, zum Beispiel bei der Körperwaschung?
Der schnellste Rat ist: Neu und anders probieren! Raus aus der Situation, nicht beharren, nicht insistieren, dann neu und anders den Kontakt aufbauen, bestenfalls auch durch eine andere Person. Oder die gleiche Maßnahme zu einem späteren Zeitpunkt probieren. Aber man kann natürlich auch versuchen, hinter die Fassade zu blicken und zu fragen: Warum verweigert sich jemand? Und auch hier können wieder unbefriedigte Bedürfnisse die Ursache sein. Vielleicht hat die betroffene Person Schmerzen, verspürt Ängste oder muss – ganz profan – auf Toilette.

Es kann aber auch sein, dass ein Bedürfnis nach Sicherheit und Nähe besteht, bevor die Person sich überhaupt auf eine intime Handlung wie die Körperpflege einlassen kann. Die israelische Wissenschaftlerin Jiska Cohen-Mansfield hat sich sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt und gesagt: Wir müssen herausforderndes Verhalten entweder als ein Bedürfnisäußerung einer Person verstehen, als Versuch, ihre Bedürfnisse selbst zu befriedigen, aber auf eine unpassende Art und Weise, oder als Zeichen von Frustration.

Was können Pflegende tun, wenn Bewohnende sehr aufgebracht sind, wenn sie schreien oder sogar um sich schlagen?
Wenn tatsächlich Verletzungen drohen, dann müssen Pflegende für Sicherheit sorgen, bis hin zur Notwehr oder Hinzuziehung weiterer Stellen wie Polizei oder Sanitäter. Das kommt aber in Pflegeeinrichtungen sehr selten vor. Es gibt Bewohnende, die kurzfristig aggressiv werden und beispielsweise ihren Stock oder den Rollator als Waffe ein­ setzen.

In der Regel gelingt es aber, die Person zu beruhigen, indem man erstmal auf Distanz geht, die Person zur Ruhe kommen lässt, und dann aus der Distanz versucht, mit ihr in Kontakt zu treten, und zu ergründen, was sie bekümmert. Dabei hilft es, beruhigend zu sprechen, empathisch zu sein und gegebenenfalls auch die Wut und die Aggression zu spiegeln. Validierende Techniken sind in vielen Fällen ausreichend, um die Situation zu deeskalieren.

Stress und Zeitmangel widersprechen Sicherheit und Geborgenheit

Können Stress und Zeitmangel des Personals herausforderndes Verhalten verstärken?
Es gibt meines Wissens keine Studie, die das nachweist. Trotzdem ist dieser Zusammenhang natürlich naheliegend. Menschen spüren, ob die Menschen um sie herum in der Überforderung sind, Stress empfinden oder sie sogar selbst Teil dieses Stresses sind. Gerade Menschen mit Demenz haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, und das steht im starken Widerspruch zu Stress und Zeitmangel. Wir müssen aus humanistischen Gesichtspunkten davon ausgehen, dass Menschen mit Demenz dies auch noch in einem sehr fortgeschrittenen Stadium wahrnehmen.

Kann die Beziehung zwischen Pflegeperson und Bewohner eine Rolle spielen, zum Beispiel wenn es bei den gleichen Personen immer wieder eskaliert?
Natürlich spielen in der Pflege auch Sympathien und Antipathien eine Rolle. Bei Menschen mit Demenz kann es aber auch vorkommen, dass andere Personen, zum Beispiel Betreuende oder Pflegekräfte, ein Trigger sind und negative Gefühle oder Empfindungen aus früheren Erfahrungen auslösen. Das können Personen sein, die der Mutter oder Tochter ähneln, oder die an traumatische Erlebnisse erinnern. Dadurch kann es sein, dass Menschen per Hautfarbe oder Geschlecht für die Pflege ausscheiden.
Es ist zwar ein Tabu, so etwas zu sagen, aber wenn wir den Anspruch haben, person-zentriert zu pflegen, und die gepflegte Person lehnt eine Pflegeperson aus den ihr eigenen guten Gründen ab, dann ist das aus meiner Sicht zu respektieren. Auch wenn ich weiß, dass das in der Praxis an die Grenzen des Möglichen stoßen kann, weil eben zum Beispiel im Spätdienst nur zwei Pflegepersonen im Dienst sind.

Drei Maximen für Pflegekonzepte

Gibt es Pflegekonzepte, die im Umgang mit Demenz hilfreich sind, und die Sie Einrichtungen empfehlen würden?
Zum einen gibt es Versorgungskonzepte, die generell die Bedingungen der Pflege und Betreuung festlegen, und zum anderen spezielle Konzepte für Menschen mit Demenz. Im Hinblick auf ein Versorgungskonzept sollte jedes Haus für sich ein Konzept entwickeln, das sich möglichst an drei Maximen orientiert:

  • Kleingruppigkeit,
     

  • maximale Dezentralität, d. h. möglichst viele Alltagstätigkeiten verbleiben in der Einrichtung, vom Kochen bis zum Einkaufen,
     

  • maximale Beziehungsdichte. Das wichtigste Medikament für Menschen mit Demenz ist die Beziehung, deshalb sollten wir für eine hohe Beziehungsdichte sorgen.

Das sind für mich die drei Maximen, die es in Pflegeeinrichtungen zu realisieren gilt.

Und welches Konzept empfehlen Sie speziell für den Umgang mit Demenz?
Hier haben wir mittlerweile ein breites Potpourri an Angeboten – von der Validation nach Naomi Feil über die Integrative Validation nach Nicole Richard und das psychobiografischen Pflegemodell nach Erwin Böhm bis zur Mäeutik von Cora van de Kooij und der person-zentrierten Pflege nach Tom Kitwood. All diese Ansätze ermöglichen, Men­schen mit Demenz zu verstehen und auf dieser Grundlage adäquat mit ihnen zu kommunizieren.

Person-zentrierte Pflege nach Kitwood

Gibt es denn ein Konzept, das Sie favorisieren?
Für keinen dieser Ansätze gibt es momentan Evidenzen. Sie sind theoretische Konstrukte, die von Experten empfohlen werden und damit maximal eine Experten-Validität besitzen.
Ein Ansatz, mit dem ich mich persönlich sehr gut identifizieren kann, ist der Ansatz der person-zentrierten Pflege von Tom Kitwood. Er ist sehr umfassend und schließt auch andere Aspekte wie beispielsweise die Validation mit ein.
Dieser Ansatz der person-zentrierten Pflege ist auch eine Grundlage des neues Expertenstandards zur Beziehungsgestaltung bei Menschen mit Demenz. Alle Konzepte können hilfreich sein. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass es noch hochgradige Anstrengungen braucht, um als Mitarbeiter nach so einem Denkmodell arbeiten zu können.

„Empathie, Empathie, Empathie.“

Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, um ein gutes Miteinander zwischen Pflegenden und Menschen mit Demenz zu finden?
Empathie, Empathie, Empathie. Dieses fast abgenutzte Wort wird für mich persönlich immer bedeutsamer. Denn Empathie bewirkt Empathie, und fehlende Empathie bewirkt auch fehlende Empathiefähigkeit für andere. Es gibt eine ganz enge Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten. Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass ihnen und ihren Bedürfnissen Empathie entgegengebracht wird – von den Kollegen und Kolleginnen, den Führungskräften und auch den Angehörigen –, sind sie selbst eher in der Lage, empathisch mit den Bewohnenden umzugehen. Das ist für mich eine untrennbare Verbindung.

André Hennig

André Hennig ist Diplom-Pflegewirt, Pädagoge und Coach und berät Pflegeeinrichtungen und Kliniken im Hinblick auf die Versorgung von Menschen mit Demenz. Seine wissenschaftliche Expertise zum Thema Demenz hat er in mehreren Forschungsprojekten gewonnen, die zumeist innovative Versorgungskonzepte bzw. Weiterbildungskonzepte evaluierten. In Rheinland-Pfalz hat er im Auftrag des Sozialministeriums Rheinland-Pfalz das Projekt „Demenz im Krankenhaus“ begleitet. Durch seine vielfältige Dozententätigkeit hat er zudem umfassende Einblicke in die aktuelle Pflege von Menschen mit Demenz vor Ort – in Altenpflegeheimen, Wohngemeinschaften, Krankenhäusern und der ambulanten Pflege.