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Herausforderung angenommen! Leben mit Demenz

Wie ein ungewöhnliches Team ein ungewöhnliches Buch erschafft

Ein Abend in einer Stuttgarter Gaststätte. Beni Steinauer, der in Begleitung einer Unterstützerin zu einem Vernetzungstreffen von Selbsthilfegruppen angereist ist, kommt zufällig neben der Psychologin Christina Pletzer zu sitzen. Zwischen beiden entspannt sich ein angeregtes Gespräch, an dessen Ende die Innsbruckerin ausruft: „Darüber solltest du ein Buch schreiben!“. Und Beni antwortet spontan: „Aber ich kann doch gar kein Buch schreiben!“.
Das Buch kommt dennoch zustande. Von meiner Partnerin sowie Kollegin bei Team WaL (Christina) angesprochen, sage ich sofort zu, Beni und seinen Ehemann Rolf Könemann bei der Entwicklung eines Buchs zu unterstützen. Im November 2021 erscheint es schließlich im Hogrefe-Verlag.

Eine Diagnose stellt das Leben auf den Kopf

Beni und Rolf sind verheiratet und leben in Inzlingen nahe der Schweizer Grenze. Ebenso wie Rolf war auch Beni jahrzehntelang im Schuhhandel tätig. Als sich zunehmend bei ihm kognitive Einschränkungen entwickeln, verliert er seinen Arbeitsplatz und muss aus dem Berufsleben ausscheiden. Die Ärzte diagnostizieren bei ihm eine Lewy-Body-Demenz. Für das Ehepaar bricht eine Welt zusammen, Verzweiflung, Orientierungslosigkeit und Angst um die Zukunft brechen in das Leben der beiden Männer ein. Bis hierhin gleicht das Geschehen dem, was tausende andere betroffene Menschen in einer solchen Situation durchmachen. Doch wie sich Beni und Rolf aus dem ‚Tal des Elends‘ wieder herausarbeiten und sich der Herausforderung stellen, ihr Leben neu zu justieren und mit den Folgen der kognitiven Einschränkungen von Beni im Alltag zurechtzukommen, das ist nicht unbedingt alltäglich. Doch es bietet die Chance, anderen Menschen in einer vergleichbaren Situation eine Hilfestellung und einen Impuls zu geben, ihren eigenen Weg des Umgangs damit zu finden.

„Einmal habe ich in einer Tagesstätte vor Menschen über meine Erkrankung und unseren Umgang damit gesprochen“, sagt Beni. „Danach haben viele der Teilnehmenden gemeint, das hätte ihnen sehr geholfen und Mut gemacht. Und deshalb hat Rolf und mir der Vorschlag, unsere Erfahrungen in einem Buch zusammenzufassen, sehr zugesagt“.

Das Ehepaar und ich als unterstützender Autor waren uns schnell darüber einig, was Rolf so formuliert:

Unser Buch soll ein Mutmachbuch sein. Unsere Erfahrungen sind unsere Erfahrungen und nicht die anderer Menschen. Aber andere Menschen können daraus Schlüsse für ihr Leben ziehen.

Der Weg zum Buch

Als Autor hatte ich bereits vor der Arbeit an „Herausforderung angenommen!“ Erfahrungen damit, eine Person mit einer Demenzdiagnose dabei zu unterstützen, sich in Buchform auszudrücken. [1] Das Arbeitsverfahren, das damals zur Anwendung gekommen war und das ich „unterstütztes Schreiben“ genannt habe, wurde auch bei dem neuen Buch angewendet. Praktisch gestaltete sich das Ganze folgendermaßen: Das Autorenteam – Beni, Rolf und ich – führte über mehrere Monate intensive Gespräche, die in diesem Fall allerdings wegen der Coronaeinschränkungen per Video stattfinden mussten.

„Der Sonntag war bei uns schon fast ein Ritual. Ausschlafen, frühstücken und dann am Vormittag ein Videogespräch zum Buch führen“, erinnert sich Beni. Es gab einen Themenkatalog, der nach und nach abgearbeitet wurde. Aber: „Eigentlich sind wir in unseren Gesprächen meistens von „Höckchen auf Stöckchen“ gekommen“, sagt Rolf. „Am Ende haben wir es aber dennoch geschafft, alle Themen zu besprechen“.
Und mehr: spannend waren insbesondere auch die Themen, die ursprünglich gar nicht auf der Arbeitsliste gestanden, sondern sich im Lauf der Gespräche spontan entwickelt haben.
„So haben wir einige Male über das Thema Halluzinationen gesprochen, das andere Mal über die spirituelle Ader von Beni.  Und daraus hat sich plötzlich die Frage ergeben, wer denn bestimmt, was entweder krankhaft oder spirituell sein soll“, erinnert sich Rolf.  

In unseren gemeinsamen Gesprächen fiel uns immer wieder auf, dass bei Beni so Manches, was offiziell eine Lewy-Body-Demenz ausmachen soll, nicht wirklich oder nur sehr schwach vorkommt. Ein Grund, sich eingehender mit den offiziellen Beschreibungen und Definitionen dieses Krankheitsbildes auseinanderzusetzen. Am Ende unseres Erkundungsprozesses standen bemerkenswerte Erkenntnisse und Einsichten, die an dieser Stelle jedoch nicht verraten werden sollen. 

„Unterstütztes Schreiben“ bedeutet, dass Menschen, die anderen Menschen etwas Wichtiges zu sagen haben, dies in schriftlicher Form tun und in die Öffentlichkeit bringen. Weil sie, wie die meisten Menschen, selbst nicht in der Fähigkeit geübt sind, Bücher oder Ähnliches zu schreiben, bilden sie ein Team mit einem Autor. In diesem Arbeitsteam kommt die Expertise der (zum Beispiel von einer Krankheit) Betroffenen mit der Expertise des schreibkundigen Autors zusammen. In unserem Fall verfügt dieser nicht allein über Schreibkompetenz, sondern zudem über jahrzehntelange Erfahrung im Themenfeld kognitive Beeinträchtigungen. Da er aus den Gesprächsinhalten ein Manuskript verfasst, muss im Arbeitsprozess sichergestellt werden, dass sich nicht letztendlich (unbewusst) seine Ansichten im Text niederschlagen, sondern tatsächlich die Stimme der „Experten in eigener Sache“ zum Ausdruck kommt. Das komplette Manuskript von „Herausforderung angenommen!“ wurde daher Satz um Satz und Wort um Wort von den Beteiligten durchgearbeitet und kontrolliert. Im Buch hat keine Zeile Niederschlag gefunden, die nicht von Beni und Rolf 'abgesegnet' und frei gegeben wurde.
Beni: „Es gab fast nie etwas zu korrigieren, vielleicht hier einmal eine Formulierung, die Rolf und ich nicht so gewählt hätten, oder ein Datum. Wir drei Autoren haben prima zusammengearbeitet“
Die Arbeit an dem Buch, die gemeinsamen Gesprächsrunden und Diskussionen im Autorenteam, stellten für Beni und Rolf einen Prozess der Selbstreflexion dar.

Rolf Könemann:

Sich so intensiv mit so vielen Facetten seines Lebens beschäftigen zu müssen, ist ein total spannender Prozess. Da tauchten plötzlich Dinge auf, an die wir seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatten. Und da wurden oftmals Zusammenhänge deutlich, die wir vorher noch nie so gesehen hatten.

Lasst Töne sprechen!

„Herausforderung angenommen!“ hat etwas, was Bücher normalerweise nicht haben: es gibt zusätzlich einen Song zum Buch sowie ein Musikvideo. Musik spielt eine große Rolle im Leben von Beni und Rolf. So kam es zu der Idee, auch einen Song zu produzieren. Das Arbeitsteam, bestehend aus zwei direkt und indirekt Betroffenen und einem Buchautor, wurde daher um Musiker erweitert: ein Songwriter und Komponist, ein Produzent und Musiker aus dem Rock- und Pop-Genre. Der Songtext „Herausforderung angenommen!“ wurde von dem Textwriter geschrieben, aber auch er musste von Beni und Rolf freigegeben werden.  

„Ja, der Text stimmt. Er beschreibt genau unser Lebensmotto“, sagt Beni. Den Song sowie das mit Beni und Rolf gedrehte Musikvideo sehen alle Beteiligten als eine große Chance an. „Wir hoffen, dass wir so Menschen erreichen können, die ansonsten eher nicht auf das Thema Demenz ansprechbar sind oder zumindest nicht automatisch über ein Buch“, sagt Rolf. „Der Song macht einfach gute Laune, und das sicher auch bei anderen Menschen“, ergänzt Beni.  

Breite Zielgruppe

Für wen ist das Buch (und sind der Song und das Musikvideo) gedacht? Es wendet sich an ein breites Publikum. Sein Wert liegt sicherlich darin begründet, dass er Menschen, die direkt oder indirekt von kognitiven Einschränkungen betroffen sind, hilfreiche Impulse zur Bewältigung ihrer eigenen Lebenssituation bieten kann. Es ermöglicht beruflich (und ehrenamtlich) im Umfeld von Pflege und Begleitung tätigen Personen ungewohnten Einblick in das Erleben betroffener Menschen und Familien. Aus den Erfahrungen, die stellvertretend für viele andere Betroffene von Beni und Rolf im Umgang mit Beratungsstellen, Beratungsinhalten, medizinischen und anderen professionellen Institutionen geschildert werden, können wichtige Konsequenzen für die Veränderung der Berufspraxis abgeleitet werden (z.B. mit Blick auf Sprache, Kommunikation, Informationsgestaltung, passende Angebote für frühbetroffene Personen, Formen der Unterstützung). Gerade Profis sei die Lektüre des Buches daher wärmstens ans Herz gelegt.

Peter Wißmann

 

[1] Christian Zimmermann, Peter Wißmann: „Auf dem Weg mit Alzheimer! Wie sich mit einer Demenz leben lässt“. 2001, Frankfurt am Main

 

 

Peter Wißmann

Peter Wißmann. Der aus Deutschland stammende Buchautor, Redner und Coach lebt in Innsbruck, Tirol, und ist im Team WaL – Wachstum ab der Lebensmitte tätig.

www.team-wal.com

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