Die Krankheiten sind sehr unterschiedlich, die Probleme aber sind ähnlich. Kinder und jugendliche mit chronischen körperlichen Erkrankungen und ihre Familien müssen mit zahlreichen Schwierigkeiten kämpfen. Ein neuer Band aus der Reihe „Ratgeber Kinder- und Jugendpsychotherapie“ gibt Informationen und Hilfestellungen für Betroffene, Eltern, Lehrer und andere Bezugspersonen. Wir haben mit den Autorinnen Melanie Gräßer und Prof. Dr. Gitta Reuner gesprochen.
Viele Kinder sind von chronischen Krankheiten betroffen und hiervon gibt es eine Vielzahl mit ganz unterschiedlichen Krankheitsbildern – sind die Probleme, die die Kinder und ihre Familien haben, dennoch vergleichbar?
Gitta Reuner:
Es gibt in der Tat sehr viele verschiedene chronische körperliche Krankheiten, denn prinzipiell kann jedes Organsystem betroffen sein, auch das Zentrale Nervensystem. Schätzungen aus großen repräsentativen Studien zufolge (z. B. KiGGS, Kamtsiuris et al., 2007) ist jedes 8. Kind von einer chronischen Krankheit betroffen. Es gibt „häufigere“ Krankheiten, z. B. Asthma bronchiale oder Neurodermitis. Aber auch die sogenannten „seltenen Krankheiten“ oder Orphan diseases sind in der Summe häufig: Man muss davon ausgehen, dass allein in Deutschland ca. 4 Millionen Menschen an einer solchen seltenen Erkrankung leiden.
Aber nun zu ihrer Frage: Nein und Ja. Die Wahrheit liegt wie so oft dazwischen. Einerseits nein, denn die Probleme von Kindern und ihren Familien mit ihren unterschiedlichen Krankheiten können sehr verschieden sein. Je nach Krankheit müssen die Betroffenen evtl. mit Schmerzen zurechtkommen (z. B. rheumatische Erkrankungen), andere mit der Tatsache, dass die Krankheit nach außen quasi unsichtbar ist, aber dennoch sehr belastend sein kann (z. B. angeborene Herzfehler oder Epilepsien). Während einige mit Krisen oder Schüben zurechtkommen müssen (z. B. Rheumatische Erkrankungen, Cystische Fibrose, Epilepsien, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Asthma bronchiale), haben andere eher das Problem andauernder Kontrolle von Körperfunktionen (z. B. Diabetes Typ 1). Man könnte also sagen, dass jede Krankheit ihre besonderen Herausforderungen und Probleme mit sich bringt. In einem Modell aus der systemischen Psychologie werden schwere Krankheiten „typisiert“ nach der Art des Beginns (akut oder schleichend), dem typischen Verlauf (voranschreitend, konstant, episodisch, schubweise), dem zu erwartenden Outcome (verkürzte Lebenserwartung oder nicht) und dem Ausmaß der Behinderung (Kognition, Beweglichkeit usw.). Andererseits gibt es auch übergeordnete Herausforderungen, die wahrscheinlich sehr ähnlich sind, unabhängig von der Krankheit (Rolland, 2003). Übergeordnet unterscheiden sich Krankheiten vor allem im Grad der Vorhersehbarkeit bzw. der Kontrollierbarkeit, so dass die emotionalen Herausforderungen sehr unterschiedlich sein können.
Andererseits ja, einige Herausforderungen und Probleme sind recht ähnlich, unabhängig von der chronischen körperlichen Krankheit als solche. Die Diagnose einer chronischen körperlichen Krankheit kann grundsätzlich als „Krise“ verstanden werden, die es erforderlich macht, sich anzupassen. Diese erste Anpassungsleistung an den Umstand, dass nun eine Krankheit für lange Zeit dabei sein wird, trifft wohl fast alle Familien. Auch die Tatsache, dass man sich – meist unerwartet – mit vielen Fachleuten auseinandersetzen muss, dass man über die lange chronische Zeit zur Expert*in für etwas wird, was man sich gar nicht ausgesucht hat, dass man evtl. Pläne, Ziele und Wünsche neu ausrichten muss, ist ebenfalls eine Herausforderung, die fast alle Betroffenen kennen. Schlussendlich ist die chronische Krankheit wie ein „unerwartetes neues Familienmitglied“ oder ein Gepäckstück, das man nicht einfach zurücklassen kann.