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Kinder mit Fluchterfahrung optimal versorgen

Im Band „Interdisziplinäre Versorgung von Kindern mit Fluchterfahrung“ wird ein kultur- und traumasensibles Elterncoaching bereit gestellt, das aus der interdisziplinären Kindertraumasprechstunde (IKTS) hervorgegangen ist. Wir haben mit den beiden Mitherausgeberinnen Andrea Hahnefeld und Elena Weigand über die Auswirkungen von Fluchterfahrungen bei Kindern, das Konzept des Elterncoaching und auch Potentiale von Familien mit Fluchterfahrung  gesprochen.

Kinder mit Fluchterfahrung spielen zusammen in einer Gruppe

Das Thema ist hochaktuell, auch wenn es immer wieder große Flucht- und Migrationsbewegungen gab. Für wen ist das Buch geschrieben worden, wer kann davon profitieren?

In erster Linie richtet sich dieses Buch an Fachkräfte, die für die Versorgung von Kindern mit Fluchterfahrung im medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Bereich zuständig sind. Damit sind z.B. Kinderärzt*innen gemeint, die die Kinder im Untersuchungskontext sehen oder Fachkräfte der Frühförderung, die Kinder mit Entwicklungsverzögerungen fördern, genauso wie Erzieher- und Lehrer*innen, die die Kinder im täglichen Gruppenumfeld betreuen und unterrichten. Das Elterngruppenmanual wurde im Hinblick auf die Aufgaben der Fachkräfte und Therapeut*innen konzipiert, die mit Familien mit Fluchterfahrung in Gemeinschaftsunterkünften arbeiten, wobei viele Elemente auch in der Elternberatung z.B. im SPZ , bei ambulanten Therapien oder in pädagogischen Einrichtungen eingesetzt werden können.

Kinder sind überproportional häufig von Flucht betroffen, gerade diejenigen also, die am meisten Schutz bedürfen. Wie wirken sich Fluchterfahrungen bei Kindern aus, sind die Auswirkungen anders als bei Erwachsenen?

Tatsächlich handelt es sich laut aktueller Zahlen bei 21 % der Menschen, für die in diesem Jahr Asyl in Deutschland beantragt wurde, um Kinder unter 11 Jahren.

Auch nach Fluchterfahrungen leben Kinder sehr viel mehr in der Gegenwart als Erwachsene. In unserer klinischen Arbeit sehen wir, dass Kinder auch schwerwiegende und potentiell traumatisierende Erlebnisse in vielen Fällen zügig verarbeiten können, solange sie im aktuellen Umfeld viele korrigierende positive Erfahrungen machen. Unabhängig von ihren Vorerfahrungen haben besonders junge Kinder also gute Chancen, sich positiv entwickeln zu können, wenn sie sich im Hier und Jetzt sicher und geborgen fühlen. Gleichzeitig ist die entwicklungspsychologische Perspektive bei Kindern wichtig: Aufgrund der mitunter jahrelangen Fluchterfahrung bleiben vielen Kindern wichtige Entwicklungsräume verwehrt. Wir sehen dann z.B. Kinder mit verlangsamter oder fehlender Sprachentwicklung aufgrund von Deprivation durch lange Aufenthalte in Camps oder Lagern, in denen sie mit vielen unterschiedlichen Sprachen konfrontiert wurden, aber keine davon richtig erlernen konnten. Diese Rückstände können später nur schwer nachgeholt werden. Umso wichtiger sind dann positive Interaktionen mit den Bezugspersonen und gute Förderung im Umfeld.

Wie äußert sich beispielsweise eine Posttraumatische Belastungsstörung bei kleinen Kindern, die ihre Traumata noch nicht in Worte fassen können?

Gerade bei jüngeren Kindern bleibt oft sehr lange eine erhöhte Wachsamkeit und starke Schreckhaftigkeit erhalten, die im schulischen Kontext zu Konzentrations- und Aufmerksamkeitsproblemen führen kann. Die Kinder wurden mitunter aufgrund der Lebensumstände jahrelang auf das Wahrnehmen aller Reize im Sinne der schnellen Erkennung von Gefahr trainiert und tun sich dann später im schulischen Kontext schwer, Störreize auszublenden und sich ausschließlich auf eine Sache zu konzentrieren. Zudem können Kinder nach schlimmen Erlebnissen zwar die meiste Zeit im Alltag ein völlig normales Verhalten zeigen, reagieren aber sehr stark auf bestimmte Umgebungsbedingungen und Reize, die sie an die traumatisierenden Ereignisse erinnern. Diese sogenannten Trigger sind oft im Umfeld nicht nachvollziehbar, sodass die starken Reaktionen der Kinder als unvorhersehbar, „aus dem Nichts heraus“ und übertrieben wahrgenommen werden. Expert*innen sprechen in dem Zusammenhang von überlebensfokussierten Zuständen, da die Kinder sich in den Momenten genauso fühlen, wie in der zuvor erlebten bedrohlichen oder ängstigenden Situation, und automatisch die entsprechenden körperlichen Reaktionsprozesse ausgelöst werden, die für Selbstverteidigung, Erstarren oder Flucht sorgen. Vor allem kleinere Kinder zeigen die Symptome von Traumafolgestörungen also  eher auf der Verhaltensebene, z.B. in extremer Trennungsangst oder vermeintlichen Wutanfällen, die aber eher dem eigenen Schutz oder der Selbstverteidigung dienen.

Wie sieht das von Ihnen aufgebaute Konzept für die interdisziplinäre Versorgung aus, welche Komponenten beinhaltet es?

Zunächst haben wir im Sommer 2016 mit einer niedrigschwelligen Sprechstunde angefangen. Daraus hat sich dann im bedarfsorientierten Vorgehen unser heutiges multidimensionales Konzept entwickelt. Es handelt sich um einen kultur- und traumasensitiven Behandlungsansatz, der das gesamte Umfeld des Kindes mit berücksichtigt, um verschiedene Unterstützungsmaßnahmen und klinische Interventionen je nach Bedarf anzubieten. Hierbei ist das Herstellen von gefühlter Sicherheit im unmittelbaren Umfeld des Kindes grundlegend, anschließend soll die Fähigkeit (wieder-)erlangt werden, eigene Emotionen und Verhaltensweisen zu regulieren für eine Stabilisierung und daraufhin kann zusätzlich eine störungsspezifische, ggf. auch traumaverarbeitende Therapie sinnvoll sein. Unser Konzept gliedert sich in drei Teile: Die Interdisziplinäre Sprechstunde für Kinder und ihre Familien mit Fluchterfahrung (ISKF), die niedrigschwellige Psychoedukationsmaßnahme „Parents‘ College“ als Elterngruppe und die Zusammenarbeit mit den Kinderangeboten in den Unterkünften und externen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen.

Mit welchen Problemen werden Kinder in der Regel in der Sprechstunde vorgestellt, gibt es hier typische, häufige Anlässe?

Die Vorstellungsanlässe sind sehr unterschiedlich. Oft machen sich Eltern z.B. Sorgen, dass die Kinder zu wenig essen, da sie das Kantinenessen in den Unterkünften nicht mögen, es besteht Angst vor Abschiebung/Verlegung, sie wünschen sich, dass das Kind bald in einen Kindergarten geht, oder bemerken Stottern, Ängste oder vermehrte Wutanfälle bei ihrem Kind. In vielen Fällen kommt die Initiative zur Vorstellung in unserer Sprechstunde auch nicht von den Eltern selbst, sondern von den Fachkräften aus dem Umfeld der Kinder, wenn sie z.B. in der hausinternen Kindergruppe durch extreme Ängstlichkeit oder aggressives Verhalten im Gruppenkontext auffallen. In jedem Fall ist eine Auftragsklärung im Ersttermin wichtig, um die vielschichtige Symptomatik, die im Rahmen einer Traumafolgestörung auftreten kann zu eruieren und die Hilfsmöglichkeiten und Grenzen der ISKF aufzuzeigen.

Mit dem „Parents‘ College“ nehmen Sie die Eltern in den Blick. Wie ist das Training aufgebaut und welche Ziele hat es?

Das Parents‘ College besteht aus vier Sitzungen mit unterschiedlichen Modulen und findet es als Elterngruppe mit der Unterstützung von Dolmetscher*innen statt. Die Inhalte werden in einfacher Sprache, durch gemeinsames Üben und mit Unterstützung von Bildmaterialien vermittelt. Sitzung 1 beinhaltet die Rahmenbedingungen und Umsetzungsmöglichkeiten für eine gesunde kindliche Entwicklung. Hierbei werden z.B. wichtige Grundsätze und rechtliche Vorgaben in Bezug auf Kindererziehung und frühe Bildung in Deutschland erörtert. Sitzung 2 gibt einen umfangreichen Überblick über medizinische Themen wie gesundheitsförderndes Verhalten im Alltag, typische Erkrankungen und Infekte im Kindesalter, Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen, Verbot weiblicher Genitalbeschneidung und rechtlicher und medizinischer Rahmen der Zirkumzision (Beschneidung) von Jungen. Sitzung 3 vermittelt Basisinformationen zu entwicklungsadäquaten und sprachfördernden Beschäftigungsmöglichkeiten von jungen Kindern sowie der Bedeutung emotionaler Zuwendung, Grenzsetzung und Gewaltfreiheit auch unter schwierigen Lebensbedingungen. Bei allen Themen, aber v.a. in Sitzung 3, tauschen sich die Eltern in der Regel rege aus und werden angeleitet, aktives gemeinsames Spielen und andere Interaktionen mit ihren Kindern direkt auszuprobieren. Sitzung 4 dreht sich schließlich spezifisch um eine ausführliche Psychoedukation zum Thema Traumafolgestörungen und Unterstützungsmöglichkeiten.

Ziel des Parents‘ College ist es, die Eltern frühzeitig über die Gegebenheiten des Gesundheits-, Betreuungs- und Bildungssystems in Deutschland zu informieren und eine Gelegenheit für Fragen und Austausch zu bieten. Eltern sollen unter Berücksichtigung der Gesamtsituation dabei unterstützt werden, auch unter schwierigen Lebensbedingungen eine positive Lern- und Spielumgebung für ihre Kinder zu schaffen und ihnen über positive Interaktion ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln zu können. Dies stärkt zudem das Gefühl der eigenen Handlungsfähigkeit in den Familien.

Die Gefahr ist groß, nur die Schwierigkeiten und Herausforderungen bei einem solchen Thema zu sehen, aber Sie betonen, dass Familien mit Fluchterfahrungen auch Kompetenzen und Potentiale haben – wie lässt sich der Blick hierfür schärfen?

Indem man den Menschen möglichst auf Augenhöhe und mit wenig Voreingenommenheit begegnet. Hierbei ist es als Behandler*in wichtig, sich immer wieder selbst zu reflektieren, um sich seiner eigenen kulturellen Verortung bewusst zu sein und eigene Einstellungen zu Menschen aus anderen Kulturen zu hinterfragen. Im Gegensatz zu einer Vorstellung im SPZ, wo im Vorfeld schon ein Anmeldebogen mit den wichtigsten soziodemographischen Daten vorliegt, wissen wir in der ISKF wirklich noch nichts über die Menschen, die uns gegenübersitzen. Was uns allerdings immer bewusst sein sollte, ist die Tatsache, dass sie alle unter oft schwierigsten Bedingungen den Weg hier her und zu uns geschafft haben. In der Regel ist die Hauptmotivation dafür, dass Eltern ihren Kindern ein besseres Leben in Sicherheit und mit Bildungschancen ermöglichen wollen. Dafür verdienen sie Hochachtung und unseren größten Respekt


Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. Andrea Hahnefeld

Dr. rer. nat. Andrea Hahnefeld,Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) mit Weiterbildung Spezielle Psychotraumatherapie mit Kindern und Jugendlichen (DeGPT), wissenschaftliche Mitarbeiterin, Gruppenleiterin (Lehrstuhl für Sozialpädiatrie) ist seit 2020 Projektleiterin des EU-geförderten AMIF-Projekts „Kultur- und traumasensitive Versorgung von Kindern mit Fluchterfahrung“ am Lehrstuhl für Sozialpädiatrie an der TU München.

Elena Weigand

Elena Weigand, M.A., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Verhaltenstherapie) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Technischen Universität München (TUM) im AMIF-Projekt „Interdisziplinäre Sprechstunde für Kinder, Jugendliche und Familien mit Fluchterfahrung“ und „Spezifische Versorgungsangebote für Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund und Traumafolgesymptomatik“ und Angestellte Psychotherapeutin in der Psychotherapeutischen Praxis Dr. De Maeght, München.

Empfehlung des Verlags

Interdisziplinäre Versorgung von Kindern mit Fluchterfahrung

Mit psychoedukativem Gruppenkonzept für Eltern

herausgegeben von Andrea Hahnefeld, Elena Weigand, Sigrid Aberl, Volker Mall

 

 

 

 

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