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Komplementäre Therapien bei Depression

Depression hat viele Gesichter und es gibt mehrere Möglichkeiten der Therapie. Über standardisierte und komplementäre Therapien gibt Prof. Dr. Ingrid Kollak in Ihrem Buch „Komplementäre Therapien bei Depression“ Auskunft und zeigt Möglichkeiten der Selbstsorge auf. Wir haben mit ihr über das neue Buch gesprochen.

Unterschiedliche Menschen benötigen unterschiedliche Therapien bei Depressionen

Sie schreiben: Die Diagnose Depression hat viele Gesichter. Welche Gesichter zeigen sich, wie kann sich eine Depression äußern?

Das Buch zeigt anhand von Fallgeschichten eine Vielzahl von Symptomen, die mit dieser Krankheit einhergehen. Eine über lange Zeit andauernde Niedergeschlagenheit, fehlendes Interesse, mangelnder Antrieb und körperlicher Starre sind die vorherrschenden und bekanntesten Symptome bei monopolaren Depressionen. Depressionen können aber auch von Wut, Panik, Alkoholabhängigkeit, Ruhelosigkeit verdeckt werden. Das machen die Fallgeschichten deutlich. Außerdem gibt es bipolare Depressionen, bei denen Niedergeschlagenheit und Hochgefühl wechseln. Ihr Wechsel kann häufig oder selten sein, die Phasen können unterschiedlicher lang dauern. Das alles erschwert es, das Leiden genau zu erkennen und zu therapieren.

Ich spreche über die vielen Gesichter der Depression, damit die Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, nicht ausgeblendet werden. Denn mit der Depression sind nicht selten Vorstellungen verbunden, die mit der Krankheit und den Betroffenen wenig zu tun haben.

Was genau versteht man unter komplementären Therapien?

Mit dem Begriff der komplementären Therapien werden nicht-medikamentöse Behandlungen der Depression bezeichnet. Diese ergänzenden oder alternativen Angebote haben nicht nur Eingang in die Praxis gefunden, sondern sie wurden auch umfangreich untersucht. In der nationalen Versorgungsleitlinie zur Behandlung von Depression, die in Fachgruppen entwickelt wurden, um die Therapeuten in ihrer praktischen Arbeit zu unterstützen, werden viele dieser komplementären Therapieangebote genannt. Nach diesen Leitlinien beginnt eine Behandlung immer mit einer sorgfältigen Diagnostik. Darauf folgen zuerst Psychoedukation und/oder eine psychologische Therapie. Diese werden unterstützt durch komplementäre und alternativmedizinische Therapien. Genannt werden die bewegungsbasierten Interventionen Sport, Yoga, Qi Gong, Tai Chi. Eine medikamentöse Therapie ist nur bei wenigen und schweren Krankheitsverläufen angezeigt und muss gewissenhaft überwacht werden. Einnahmedauer und Dosierung sind eng definiert. In der Praxis werden jedoch die meisten Psychopharmaka durch Hausärzte verschrieben. Hinzu kommen der freie Handel dieser Medikamente und deren nicht-therapeutische Anwendung. Das ist ein weiteres, wichtiges Thema.

In Ihrem Buch arbeiten Sie mit Fallgeschichten, wie sind Sie hier vorgegangen, sind es Fälle, die Sie als „typisch“ einstufen würden?

Ich habe mehrere Wege genutzt, um gezielt für dieses Buch mit Menschen darüber zu sprechen, wie sie ihre Depression und deren Behandlung erlebt haben. Die Berichte stammen aus Gespräche mit Frauen, die ich über meine Brustkrebsstudie kennengelernt habe. Im Schneeballsystem haben diese weitere Männer und Frauen in ihren Familien- und Bekanntenkreisen gefunden, die gesprächsbereit waren. Darüber hinaus habe ich im eigenen beruflichen und privaten Umfeld Menschen angesprochen und interviewt. Die Bereitschaft zum Gespräch bestand sehr oft. Die vielen Interviews habe ich zu Fallgeschichten verdichtet. Ein solches Vorgehen war für das Format des Fachbuchs notwendig, denn es sollten möglichst viele Auslöser, Symptome und Behandlungsarten der Depression vorgestellt werden. Darüber hinaus schützt dieses Vorgehen die interviewten Menschen vor einer leichten Wiedererkennung. Das war mir wichtig, obwohl einige Interviewte gesagt haben, ich könnte ihre Geschichte auch unter ihrem Namen veröffentlichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in die vorgestellten Fallgeschichten viele Erfahrungen von Betroffenen eingeflossen sind.

Typisch an den vorgestellten Fällen und den dahinterliegenden Berichten ist, dass es oft lange gedauert hat, bis das Problem, das hinter der Depression steckte, erkannt wurde. Es gab alarmierend viele unzutreffende Diagnosen und Fehlbehandlungen.

Ein Kapitel im Buch widmet sich dem Thema „Alleinerziehende Mütter und Depressionen“, sind Alleinerziehende einem höheren Risiko für eine Depression ausgesetzt?

Peter Clement Lund hat die Diagnostik einmal als eine individuelle Lösung für ein kollektives Problem bezeichnet. In seinem Zusammenhang ging es um Trauerarbeit, die sich von einem kollektiven Trauern zu einem individuellen Trauern verändert hat. Ähnlich sieht es in der Erziehungsarbeit aus. Wenn die kollektive Aufgabe der Erziehung und Bildung zu immer größeren Teilen den Müttern und Vätern zufällt, dann werden diese überlastet und erkranken möglicherweise an ihren Überforderungen. Eine besonders hohe psychosoziale und körperliche Belastung erleben Alleinerziehende. Belegt wird diese Aussage durch aktuelle Forschungen. Steffie Sperling von der Medizinischen Hochschule Hannover fand heraus, dass alleinerziehende Mütter und Väter ihren Gesundheitszustand auffallend schlechter einschätzen als Mütter und Väter in Partnerschaften. Borgmann, Rattay und Lampert vom Robert Koch Institut kamen nach Auswertung eines großen Datenpools zu der Aussage, dass die Gefahr, im Verlauf der nächsten zwölf Monate an einer Depression zu erkranken, bei alleinerziehenden Müttern und Vätern rund zweifach höher liegt als bei Müttern und Vätern in Partnerschaften.

Im Kreis der von mir interviewten Personen gab es zwei alleinerziehende Frauen und einen alleinerziehenden Mann. Sie sprachen über finanzielle Nöte, den sozialen Status Alleinerziehender, ihre Außenseiterrolle auf Familienfeiern, ihre Isolation und einsamen Entscheidungen. Dabei wird deutlich, wie die schwierigen sozialen Verhältnisse zusätzlich durch das Verhalten der Umgebung belastet werden können. Im Fall von Betty werfen die Geschwister, die auf unterschiedliche Weise ein erfolgreiches Leben in glücklichen Partnerschaften zu leben scheinen, einen schweren Schatten auf sie und ihr uneheliches Kind. Betty wird von ihrer Familie abgewertet und abwechselnd mit Mitleid und Häme überschüttet. Wer kann so eine Situation auf Dauer unbeschadet überstehen?

Meine Antwort auf Ihre eingangs gestellte Frage lautet klar: Alleinerziehende sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, an einer Depression zu erkranken. Zur Bestätigung dieser Aussage gibt es gültige und verlässliche Daten. Die Schicksale, die hinter diesen Daten stehen, werden deutlicher durch die Interviews, die in Bettys Fallgeschichte eingeflossen sind.

Welche Rolle spielt der Körper bei einer Depression, welche Rolle spielen Körperübungen?

Unter einer Depression leiden Menschen mit Haut und Haaren. Das heißt, im Zustand einer Depression ist es nicht möglich, sich körperlich fit und aktiv, aber psychisch krank zu fühlen. Der psychische Zustand erfasst einen Menschen auch körperlich. Das hat immer schon zu dem Umkehrschluss geführt, eine depressive Person muss nur körperlichen Reizen ausgesetzt werden, um sie auch psychisch zu erwecken. Aus der Geschichte der Behandlung psychisch kranker Menschen gibt es dazu eine Reihe sogenannter Kuren. Der einfache Schluss, von einem physischen Reiz käme es automatisch zu einer erwünschten psychischen Reaktion, ist falsch. Körperliche Aktivitäten können aus der Starre und Verhärtung lösen, allerdings erfordert das einen Impuls, der von den betroffenen Menschen selbst ausgeht. Außerdem ist eine unterstützende Therapie notwendig. Die Autorin Eva Meijer, die ihre depressiven Lebensphasen für Außenstehende verständlich zu machen versucht, schreibt darüber, wie sie an Tagen, an denen sie sich so heruntergezogen fühlt, dass sie kaum noch „ihr Kinn über den Boden heben kann“, mit ihrer Hündin spazieren geht. Sie läuft neben der Hündin her und setzt ganz darauf, dass diese körperliche Aktivität zusammen mit ihrer Therapie und ihrer sehr strikten Lebensführung sie wieder aus dem Dunkel hinausführen. Sie beschreibt die wahnsinnige Anstrengung, aktiv zu bleiben und den mühsam erarbeiteten und nur langsam eintretenden Erfolg.

Diese Berichte von Betroffenen und die klinischen Beobachtungen der Wirkungen von Aktivitäten haben dazu geführt, dass Behandlungen auf dem neusten Stand der Wissenschaft allesamt multimodale Therapien sind. Das heißt, es gibt Angebote, die unterschiedlich viel Eigeninitiative erfordern. Das Spektrum reicht von Medikamenteneinnahme und Lichttherapie, über Gesprächskreise und Entspannungsverfahren, bis hin zu gemeinsamen Kochen und Sport.

Auch die nationale Versorgungsleitlinie zur Behandlung von Depression bewertet sportliche Aktivitäten sehr positiv. Mittlerweile gibt es Untersuchungen, die versuchen, die Wirksamkeit nach Sportarten, Intensität und Dauer kleinteilig zu definieren. Mich persönlich überzeugen solche Daten nicht. Ich denke, dass ein großes, nicht unbedingt aufwändiges und teures, aber gut angeleitetes Programm von Aktivitäten hilfreich ist. In meinen Interviews reichten die gewählten Aktivitäten von Fitnesstraining, Fahrradfahren, über Spazieren und Tanzen, bis hin zu Entspannung, Yoga und Meditation. Immer wieder haben meine Interviewpartnerinnen und -partner beschrieben, wie sie sich zu diesen Tätigkeiten in höchster Not geschleppt haben, aber auch, wie ihnen dieses in Bewegung bleiben genutzt hat.
 

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Prof. Dr. Ingrid Kollak

Prof. Dr. Ingrid Kollak ist promovierte Germanistin, Sozial- und Pflegewissenschaftlerin und arbeitet seit 2019 im Vorstand des Berliner Instituts für gesundheitliche Arbeit (BIgA). Sie leitete Studien, in denen die anti-depressive Wirkung von Standard- und komplementären Therapien sowie von psychosozialen Interventionen untersucht wurde. Über Ergebnisse der Märchen+Demenz+Studie und der Untersuchung von Yoga-Übungen auf die körperliche Fitness und das psychische Wohlergehen bei Patientinnen mit Mammakarzinom hat sie Bücher und Artikel geschrieben, die in Deutschland und der Schweiz sowie in den USA und Südkorea publiziert wurden.

Mehr zum Buch finden Sie hier:

Komplementäre Therapien bei Depression

Fallgeschichten und Möglichkeiten der Selbstsorge

von Ingrid Kollak

 

 

 

 

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Das sagt der Dorsch zu:

Depression [engl. depression; lat. depressus herabgedrückt], syn. Depressive Störung, [KLI], psychische Störung deren Kernsymptom in einer durch Beeinträchtigung der Gefühls- und Stimmungslage bedingte psych. Niedergeschlagenheit bzw. Traurigkeit besteht. Weiterhin treten charakterist. Anzeichen auf der motivationalen (Interesse- und Antriebsverlust; Motivation), der kogn. (neg. Selbstkonzept, -vorwürfe und -beschuldigungen, Grübeln, Konzentrationsverlust, Entschlussunfähigkeit …

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