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Konzepte und Methoden der Therapiewissenschaften

Die Methoden und Konzepte der Therapiewissenschaften werden in einem neuen Lehrbuch für die Gesundheitsberufe der Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie/Sprachtherapie ausführlich dargestellt. Dabei wird auf Praxisnähe Wert gelegt, Merkboxen, Lernziele und abrufbare Podcasts und Videos ergänzen das Fachbuch. Wir haben mit den beiden Herausgeberinnen, Prof. Dr. Christiane Lücking und Prof. Dr. Cathleen Gaede-Illig über die Entwicklung der Therapiewissenschaften, die Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit, die Digitalisierung im Gesundheitswesen und vieles mehr gesprochen. 

Therapiewissenschaften Lehrbuch Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie studieren junge Studierende diskutieren im Stuhlkreis Foto: shutterstock

Die Therapiewissenschaften sind eine noch junge Wissenschaft – wie können sie verortet werden, wie könnten sie sich weiterentwickeln?

Cathleen Gaede-Illig: 
Ja, die Therapiewissenschaften sind eine noch junge und sich entwickelnde Wissenschaft. Die Therapiewissenschaften beschreiben die therapeutischen Disziplinen der Logopädie/Sprachtherapie, Physiotherapie und Ergotherapie in einem wissenschaftlichen Kontext. Da die Therapiewissenschaften zu jung sind, haben sie noch kein eigenes wissenschaftliches Selbstverständnis etabliert und greifen auf verschiedenste Bezugswissenschaften wie bspw. die Medizin, Psychologie und die Gesundheitswissenschaften zu. Ableitend aus den therapeutischen Handlungsfeldern mit einem expliziten Praxisbezug gehören die Therapiewissenschaften zu den angewandten Wissenschaften. Ziel der Therapiewissenschaften ist es, dass stark handlungsorientierte und praktische Handeln zu erfassen, theoretisch zu fundieren und zu evaluieren. Durch die zunehmende Akademisierung der Therapieberufe gewinnt die Therapiewissenschaft stetig an Fundament dazu. Die zunehmende Anzahl an therapiewissenschaftlichen Studiengängen wird den Weg zur eigenen Wissenschaft forcieren. Mit diesen Studiengängen und einer damit verbundenen akademischen Lehre in den Gesundheitsfachberufen werden sich die charakteristischen Themen der Therapiewissenschaften etablieren. Unser Buch greift diese Themen auf, führt in diese Themen ein und kann als Standardwerk in Ausbildung und Beruf genutzt werden.

Wie ist das Lehrbuch entstanden, für wen ist es entwickelt worden und wie kann man es nutzen?

Christiane Lücking:
Unser Buch ist aus dem Wunsch entstanden, Therapeut*innen in Klinik, Praxis, Studium und Ausbildung eine umfassende Wissensbasis zu bieten, die evidenzgeleitetes Vorgehen mit praxisrelevantem Expert*innenwissen kombiniert. Dafür konnten wir äußerst kompetente Unterstützung gewinnen einerseits durch unsere engagierten Autor*innen und Protagonist*innen unserer Medienbeiträge, anderseits durch das wunderbare Team des Hogrefe Verlags.

Unsere Inhalte richten sich an alle Health Professionals im Bereich Therapie, also Physiotherapeut*innen, Ergotherapeut*innen, Logopäd*innen/Sprachtherapeut*innen, an diejenigen, die auf dem Weg dahin sind oder diesen begleiten (Lehrpersonal für Therapieberufe). Unser Buch integriert theoretische wissenschaftliche Ausführungen, den aktuellen Forschungsstand und praxisnahe Beispiele. Ein einleitender Exkurs zu Gesundheit, Krankheit und der International Classification of Functioning, Disability an Health (kurz ICF) hilft, das Grundverständnis zu vertiefen und schafft eine Basis für die darauffolgenden Themen wie Clinical Reasoning, Ethik, Digitalisierung und interprofessionelle Zusammenarbeit. Unser Buch ist vielseitig nutzbar, denn jedes Kapitel bietet Lernziele, Exkurse sowie Fragen zur Selbstreflexion, die eine unmittelbare Anwendung des Gelernten im Berufsalltag ermöglichen. Zudem stehen unterstützende Medienbeiträge wie Podcasts und Lernvideos zur Verfügung, die über die Website des Verlags zugänglich sind.

Es gibt auch Medieninhalte, d.h., Podcasts und Lernvideos, die man abrufen kann. Können Sie ein paar Beispiele nennen, was die Leser*innen hier erwartet?

Cathleen Gaede-Illig: 
In unseren Podcasts und Lehrvideos greifen wir die Themen auf eine andere Art und Weise nochmals auf. Dadurch kann das Lernen und die Vertiefung mit einem Thema besser gelingen. In unseren Podcasts zum Clinical Reasoning bspw. erzählen erfahrene Therapeut*innen, was das eigentlich ist und wie dieses stark theoretische Thema in der Praxis Anwendung findet. In spannenden Selbstberichten erzählen sie von ihrer Arbeit und der Anwendung der Clinical Reasoning Formen. Ebenso spannend ist unser Podcast zu ethischen Fragen in der therapeutischen Arbeit. Gemeinsam mit unserer Autorin Petra Kühnast haben wir mit Therapeutinnen über die Anwendung ethischer Modelle in der beruflichen Praxis sowie über den Umgang mit ethischen Dilemmata gesprochen. Mit Anika Thurmann, unserer Autorin des Kapitels „Digitalisierung“ konnten wir ein interessantes Gespräch zur Anwendung digitaler Technologien in der therapeutischen Praxis führen. Unsere Lernvideos greifen komplexe Inhalte auf, visualisieren diese und erklären ausgewählte Modelle und Herangehensweisen. So kann mittels eines Lehrvideos ein Beispiel für die Anwendung der PICO Fragestellung im Rahmen des evidenzbasierten Arbeitens angeschaut werden. Im Lehrvideo zum Evidence Mapping wird das methodische Vorgehen kurz und knapp sowie anschaulich, in einer Art Zusammenfassung, dargestellt und im Lehrvideo zur interprofessionellen Zusammenarbeit erläutern wir das Teammodell nach Tuckman und wenden dieses praxisbezogen an, um so einen möglichen Praxistransfer zu fördern.

Welche Rolle spielt die ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health – für die Therapiewissenschaften?

Cathleen Gaede-Illig:
Wir beginnen unser Buch mit einer Fallgeschichte in der wir den Fall ICF basiert darstellen und beschreiben. Anschließend folgt ein Exkurs zum Thema Gesundheit und Krankheit sowie der ICF. Diese Ausführungen waren uns wichtig, um so ein Grundverständnis für die charakteristischen Themen der Therapiewissenschaften und damit für die folgenden Kapitel zu schaffen. Wie ich ja bereits erwähnt hatte, sind die Modelle und Theorien der Gesundheitswissenschaften ein Teil der Therapiewissenschaften. So war es uns wichtig unsere Leser*innen zu diesen Grundannahmen noch einmal abzuholen und die ICF als Basis für die Fallbeschreibung einzuführen oder aufzufrischen und kurz und knapp zu vermitteln. 

Ein Kapitel widmet sich dem evidenzbasiertem Arbeiten und Handeln, ein Thema, dem eine große Bedeutung zukommt. Welche Schritte sind in der evidenzbasierten Praxis (EbP) notwendig?

Christiane Lücking:
EbP spielt eine entscheidende Rolle in der modernen Therapie, da sie es ermöglicht, fundierte Entscheidungen über Behandlungen zu treffen, die nicht nur auf Intuition, sondern auf wissenschaftlich belegten Erkenntnissen basieren. EbP berücksichtigt dabei auch weitere Themenbereiche, die im Zusammenhang mit der Therapie stehen, wie z.B. Befunderhebung, Ätiologie, Prognosen, Assessments, Prävention, Hilfsmittel, Nebenwirkungen sowie die Güte systematischer Übersichtsartikel und Leitlinien. In unserem Kapitel über EbP erläutern wir die wesentlichen Schritte dieses Prozesses: Zunächst wird das Problem identifiziert, gefolgt von der Formulierung einer präzisen Fragestellung. Anschließend erfolgt eine systematische Literaturrecherche, um relevante Studien zu finden. Diese werden dann hinsichtlich ihrer Qualität und therapeutischen Relevanz kritisch bewertet. Die Einschätzung der praktischen Anwendbarkeit der gewonnenen Informationen, unter Berücksichtigung der Wünsche des/der Patient*in, der Erfahrungen des Therapierenden und der Rahmenbedingungen vor Ort, ist ebenfalls essenziell. Nach der Umsetzung der Maßnahmen in der Praxis erfolgt eine gründliche Evaluation der Wirksamkeit. Dieses dynamische Vorgehen ermöglicht es Therapeut*innen, ihre Behandlungsstrategien kontinuierlich zu optimieren, um den Patient*innen die bestmögliche Therapie zu bieten.

In einigen therapiewissenschaftlichen Bereichen fehlen Studien, gibt es hier positive Entwicklungen und wie kann man als Studierende*r der Therapiewissenschaften mit eventuellen Lücken umgehen?

Christiane Lücking:
Ja, erfreulicherweise gibt es im Zuge der fortschreitenden Akademisierung der Therapieberufe positive Entwicklungen, die darauf abzielen, bestehende Evidence Gaps zu schließen und die Versorgungsqualität zu verbessern. Dies äußert sich in der zunehmenden Zahl relevanter Publikationen von Therapeut*innen sowie in der Forschungsförderung nationaler und internationaler Projekte, die therapeutisch geleitet sind oder unter therapeutischer Beteiligung stattfinden. Studierende der therapeutischen Gesundheitsberufe sollten sich mit dem Konzept EbP vertraut machen und es aktiv anwenden. Bei der Entdeckung von Lücken in der Evidenz ist es entscheidend, diese nicht nur zu identifizieren, sondern auch eigene kleine Forschungsprojekte, beispielsweise im Rahmen von Qualifikationsarbeiten, zu initiieren. Hierbei ermutigen wir unsere Studierenden, innovative Ansätze zu entwickeln und ihre Ergebnisse als potenzielle Publikationen zu betrachten. In der Vergangenheit haben wir bereits erfolgreich einige hervorragende Absolvent*innen beim Veröffentlichungsprozess unterstützt und so zur Generierung neuer Evidenzen beigetragen, was letztlich, so hoffen wir, auch der gesamten Therapiegemeinschaft zugutekommt.

Ein wichtiges Stichwort ist das interprofessionelle Arbeiten in den Gesundheitsberufen. Welche Voraussetzungen sind notwendig, um gut und erfolgreich interprofessionell arbeiten zu können?

Christiane Lücking:
Um erfolgreich interprofessionell im Gesundheitswesen arbeiten zu können, sind mehrere Voraussetzungen unabdingbar. Zunächst müssen auf verschiedenen Ebenen – der Patient*innenversorgung, dem Management und der politischen Ebene – Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine enge Kooperation fördern. Dabei ist es wichtig, dass alle beteiligten Fachkräfte ihre spezifischen Kompetenzen und Ressourcen aktiv einbringen, und an Gesprächsformaten wie interprofessionellen Visiten oder Fallbesprechungen teilnehmen. Das Management spielt eine entscheidende Rolle, indem es die notwendigen strukturellen Anpassungen vornimmt und Ressourcen bereitstellt, um diese Formate zu ermöglichen. Zudem ist eine politische Rahmengebung erforderlich, die Chancengleichheit zwischen den Gesundheitsberufen sicherstellt und bildungspolitische Maßnahmen für interprofessionelles Lernen nachhaltig implementiert. Studien belegen, dass interprofessionelles Lernen positive Effekte auf Einstellungen, Wissen und kollaborative Verhaltensänderungen hat. Nicht zuletzt ist die Förderung einer respektvollen Kommunikation und einer gemeinsamen Zielsetzung innerhalb des Teams entscheidend, um interprofessionelle Kooperationen zu stärken. Nur so können unterschiedliche Perspektiven gebündelt werden, um eine optimale Versorgung der Patient*innen zu gewährleisten.

Das letzte Kapitel im Buch widmet sich dem Thema Digitalisierung. Wie schätzen Sie den Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen ein und was würden Sie sich für die Arbeit in den Therapiewissenschaften wünschen?

Cathleen Gaede-Illig:
Die Digitalisierung ist aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Wir alle müssen uns mit der digitalen Transformation identifizieren und lernen, wie technische Hilfsmittel, KI, Apps oder smarte Technologien Anwendung finden können. In den therapeutischen Berufen erhoffen wir uns von der Anwendung smarter Technologien Entlastung, Optimierung und verbesserte Patientenversorgung. Spätestens seit der Corona Pandemie 2020 nehmen digitale Formate und Softwarelösungen zu. Auch KI-basierte Software wird bereits in der Forschung erprobt, um Arbeitswelten zu bereichern. In ihrem Kapitel zur digitalen Transformation führt Anika Thurman in dieses Thema ein. Sie zeigt wie bedeutend dieses Thema für die Therapiewissenschaften aber auch insbesondere für die tägliche praktische Arbeit ist.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. phil. Christiane Lücking

Prof. Dr. phil. Christiane Lücking, Professorin für Therapiewissenschaften, Klinische Linguistin M. A. (BKL) und Gesundheitswissenschaftlerin, MPH, studierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Universität Bielefeld und der Leuphana Universität Lüneburg und promovierte an der Universität Bielefeld. Es folgten berufliche Stationen u. a. als Abteilungsleiterin für Logopädie an der neurologischen Klinik in Hessisch Oldendorf, als Verwaltungsprofessorin für Angewandte Sprach- und Kommunikationswissenschaften an der Hochschule Emden/Leer, als Fachlektorin im Schulz-Kirchner Verlag und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am IMPP in Mainz. 2018 folgte sie dem Ruf an die Hochschule Fresenius Hamburg, wo sie aktuell die BSc.-Fernstudiengänge Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie leitet und als Dozentin im Masterstudiengang Neurorehabilitation für Therapeut*innen lehrt. Sie ist Mitglied der Ethikkommission des Deutschen Bundesverband für akademische Sprachtherapie und Logopädie.

Prof. Dr. phil. Cathleen Gaede-Illig

Prof. Dr. phil. Cathleen Gaede-Illig studierte Sportwissenschaften mit dem Schwerpunkt Prävention und Rehabilitation in Rostock und Leipzig. Sie promovierte an der Universität Leipzig und ist Sporttherapeutin (DVGS). Ihr Weg führte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam in der Professur für Rehabilitationswissenschaften und über Beratungstätigkeiten 2018 in die Therapiewissenschaften an die Hochschule Fresenius Hamburg. Seit März 2021 leitet sie den Studiengang „Therapie- und Pflegewissenschaften“ sowie seit 2023 als Dekanin den Fachbereich Gesundheit & Pflege an der HFH Hamburger Fern-Hochschule.

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