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Kultur des Hinschauens gegen sexualisierte Gewalt

Schweigen ist die stärkste Waffe der Täter, sagt Dr. Werner Tschan, der mit „Sexualisierte Gewalt und Trauma“ ein Praxisbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe geschrieben hat. Wie wichtig es ist, zuzuhören und die Opfer ernst zu nehmen, welche Folgen die Traumatisierung hat und wie man wirkungsvolle Schutzkonzepte in Institutionen aufbaut, verrät uns der Autor im Gespräch.

Herr Dr. Tschan, Sie stellen anschaulich dar, wie lange es gedauert hat, bis die Diagnostik bei Traumafolgestörungen überhaupt ernst genommen wurde. Woran lag es, dass man lange von „Modediagnosen“ und ähnlichem sprach, wie lassen sich die Widerstände erklären?

Das ist eine komplexe Sache, auf die ich im Buch ausführlich eingehe. Die Grundlagen des heutigen Störungskonzeptes wurden vor über hundert Jahren geschaffen – in Frankreich durch Pierre Janet, in Deutschland durch Hermann Oppenheim: die traumatischen Neurosen, 1889 veröffentlicht. Der Widerstand kam vorwiegend von drei Seiten: (1) Die Medizin versuchte daran festzuhalten, dass Krankheiten auf somatischen Ursachen beruhen, das psychische war ihnen fremd. Wer krank wurde, litt an einer schwächlichen Konstitution und dgl. mehr. (2) Gegen die finanziellen Konsequenzen stemmten sich die staatlichen Rentensysteme und die Versicherungsindustrie – die Anerkennung von Traumafolgen als Gründe für Erwerbseinschränkungen würden zu erheblichen finanziellen Folgen führen – auch da spielte die Medizin eine unrühmliche Rolle, weil sie mit dem Begriff der „Rentenneurose“ gewissermaßen das Instrumentarium für die Ablehnung dieser Begehren schuf. (3) Und der dritte Grund – und nicht minder wichtig – war die Militärführung, die unter allen Umständen verhindern wollte, dass Soldaten wegen psychischen Belastungen krankgeschrieben werden. Man sprach von Kriegszitterern und behandelte oder besser misshandelte Betroffene mit brutalen Methoden. Zur Zeit des 1. Weltkrieges war ein englischer Militärpsychiater, Williams Reese, der betroffene Soldaten zum Reden über das Erlebte aufforderte, anstatt zu versuchen, das Leid stumm zu ertragen. Er war damit seiner Zeit um 100 Jahre voraus. Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung wurde schließlich 1980 durch die amerikanische Psychiatrie geschaffen – einerseits wegen der Veteranen des Vietnamkrieges, anderseits wegen der Vergewaltigungsopfer. Mit der ICD 10 wurde das Störungskonzept 1991 auch in Europa übernommen – und mit der Publikation des ersten Lehrbuchs in deutscher Sprache durch Fischer und Riedesser 1998 auch hierzulande langsam bekannt.

Welche Folgen hat sexualisierte Gewalt in körperlicher und seelischer Hinsicht?

Die körperlichen Folgen sind vegetativer Art mit Schmerzen aller Art, Herz- und Lungenproblemen, Schlafstörungen, Hautproblemen und vielen weiteren Beeinträchtigungen bedingt durch Stress- und Angstreaktionen. Wenn sich diese körperlichen Folgen zeigen, gehen die Betroffenen in der Regel erst einmal zum Hausarzt. Dort aber bekommen sie nicht die richtige Diagnose, sondern die Probleme werden als funktionell oder psychosomatisch betrachtet. Die hauptsächlichen Folgen sind seelischer Art und gegen außen nicht sichtbar. Betroffene leiden unter den immer wieder auftauchenden Erinnerungen, Flashbacks und Alpträumen – oft mehr als unter den eigentlichen traumatischen Ereignissen. Besonders bei sexualisierter Gewalt spielen Scham und Vorwürfe eine große Rolle, die viele Opfer zu jahrelangem Schweigen bringt. Wir sprechen heute von Traumafolgestörungen – aber aufgepasst: Bei Vergewaltigungen haben rund 50 % der Betroffenen eine Posttraumatische Belastungsstörung. Zahlreiche Betroffene versuchen ihre Beschwerden zu überspielen, um nicht wahrnehmen zu müssen, wie sehr sie unter den Folgen leiden.

Woran liegt es, dass es manchmal Jahrzehnte dauert, bis Betroffene über sexualisierte Gewalt und Missbrauch sprechen können? 

Die Untersuchungen der Australischen Royal Commission an rund 10.000 Betroffenen von sexualisierter Gewalt hat gezeigt, dass es im Mittel 34 Jahre dauert, bis Betroffene jemandem etwas anvertrauen. Viele brauchen noch länger! Die Gründe sind vielfältig, neben Scham spielt sich auch die öffentliche Wahrnehmung und fehlende Unterstützung für die Betroffenen eine Rolle – die Gesellschaft reagiert mit einer kollektiven Dissoziation auf sexualisierte Gewalt  – man will es partout nicht wahrhaben, was da geschieht. Opfer reagieren analog – sie dissoziieren das Erlebte und versuchen damit, im Alltag einigermaßen funktionieren zu können. Opfer spüren, dass sie z.B. einen Skandal auslösen würden oder Entsetzen bewirken, wenn sie darüber sprechen. Sie müssen damit rechnen, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie nicht unterstützt werden. Nehmen Sie als Beispiel eine junge Sportlerin, die von ihrem Trainer vergewaltigt wird und am folgenden Tag sportliche Höchstleistung bringen soll – und wohl auch will. Das ist ihr wichtig – das Störende muss weg aus dem Bewusstsein. Eigentlich sagen viele Opfer aber bereits früher etwas, machen Andeutungen – sie werden nur nicht gehört. Und es ist ja ohnehin schwierig, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, es ist etwas sehr Intimes, sehr Persönliches.

Ihr Buch richtet sich an Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe, ebenso an Trainings- und Erziehungsberufe – warum ist es in diesen Bereichen besonders wichtig, fundiertes Wissen über sexualisierte Gewalt aufzubauen?

Fachleute auf allen Ebenen sind mit einer Vielzahl von Betroffenen konfrontiert. Zunächst das Gesundheitswesen: Die Zahl von Hilfesuchenden geht in die Millionen. Wenn Ärzt*innen und Pflegende kein Wissen und kein Störungskonzept haben, werden die Betroffenen nicht adäquat behandelt. Wie schon vorhin erwähnt – oft sind Hausärzt*innen die ersten Ansprechpartner für Opfer, hier fehlt aber oft Wissen und die Traumatisierung wird nicht erkannt. Damit verzögert sich dann wieder die eigentlich notwendige psychotherapeutische Behandlung. Wir müssen als Ärzt*innen unsere Patient*innen auch darauf ansprechen können, wir müssen signalisieren: Hier können Sie sprechen, wir interessieren uns. 

Fachleute aus diesem Bereich sind zudem als Gutachter für Versicherungen und Gerichte tätig – wenn sie die Ursachen nicht korrekt erfassen, erstellen sie falsche Berichte, die für die Betroffenen mit deletären Folgen verbunden sein können. Das gleiche gilt für die Sozialberufe, die häufig in Sozialbehörden, Jugendämtern und Heimeinrichtungen eine wichtige Schnittstellenfunktion innehaben. Und schließlich sitzen in jeder Schulklasse mehrere betroffene Kinder. Da rund die Hälfte aller sexualisierten Gewaltdelikte innerhalb von Familien stattfindet, spielen die Lehrkräfte im Aufdecken sexualisierter Gewaltdelikte eine zentrale Rolle. Es ist wichtig, dass etwa in der Ausbildung das Fachwissen vermittelt wird, dass Lehrkräfte wachsam sind. Gibt es eine plötzliche Verhaltensänderung? Zieht ein Kind sich zurück oder wird es plötzlich aggressiv? Hier ist es wichtig, mit offenen Fragen zu reagieren, vorsichtig nachzufragen – und ggf. die notwendigen Schritte einzuleiten. 

Auch der Sport ist leider häufig ein Ort von sexualisierter Gewalt, es gab dazu ja in den letzten Jahren auch viele Berichte. Es ist wichtig, dass alle Fachleute ein Konzept im Kopf haben, wissen, wie sie Kinder oder Jugendliche ansprechen können. Es wäre sehr wichtig, dass dies auch in der Ausbildung thematisiert wird, in die Curricula aufgenommen wird, damit in der späteren Berufstätigkeit auf diese Kompetenzen zurückgegriffen werden kann.

In den Justizverfahren in Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt wurde das Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung rasch aufgegriffen. Ist das positiv zu werten?

Die juristischen Fachleute schätzen das Störungskonzept, welches einen kausalen Zusammenhang zwischen Ursache und Folgen postuliert. Sowohl im Straf- wie auch im Zivilverfahren findet dies Anklang. Was die Justiz bisher jedoch wenig bedacht hat, ist, wie sehr die Aussagequalität und damit die Zeugentauglichkeit von den durchgemachten Erfahrungen abhängt – mit der Konsequenz, dass Betroffene mit gravierenden Beeinträchtigungen im Gerichtsverfahren die kleinsten Chancen haben, dass ihren Aussagen geglaubt wird. Den Jurist*innen fällt es schwer, die Reaktionen der Opfer zu verstehen, wie z.B. plötzlich eine Stimme als Trigger funktionieren und Panik auslösen kann und ähnliches. Das muss sich ändern, Richter*innen und Ermittlungsorgane sollten fundierte Kenntnisse über Opferreaktionen haben. Und ebenfalls ändern muss sich die Gesetzeslage – Delikte gegen die sexuelle Integrität müssen als Offizialdelikte ausgestaltet werden, verbunden mit einer Meldepflicht für Fachleute. Die Politik hat jeden Hundebiss als meldepflichtig erklärt – analog muss sich dies bei sexualisierter Gewalt ändern. Für die Prävention gilt, dass sie so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Es hilft nicht viel, die Fachkräfte zu schulen, wenn am Schluss die Täter im Justizverfahren nicht belangt werden.

Wie sollten Schutzkonzepte in Einrichtungen aussehen?

Rund ein Drittel aller sexualisierten Gewaltdelikte geschehen in Institutionen. Ein Schutzkonzept kann nicht alles verhindern, das muss klar sein – aber es wäre ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen Prävention von sexualisierter Gewalt. Schutzkonzepte bündeln eine Reihe unterschiedlicher Maßnahmen. Neben Präventionsbemühungen werden Interventionsmodelle und Nachsorge als Bestandteile von Schutzkonzepten implementiert. Das Ganze muss verpflichtend erfolgen und ist in den Leistungsvereinbarungen festzuschreiben.

Wenn wir gegen sexualisierte Gewalt vorgehen wollen, dann brauchen wir Helferketten, die miteinander vernetzt sind. Das heißt, wenn wir Fachleute schulen, damit sie sexualisierte Gewalt erkennen und danach reagieren können und es so ist, dass am Schluss die Täter vor Gericht freigesprochen werden, dann wäre hier das schwächste Glied, hier müssten wir hinschauen. Hinschauen und eine Optimierung erreichen, sonst nutzt das alles nichts. Die Täter*innen müssen zur Verantwortung gezogen werden können. Ich gehe davon aus, dass nur etwa 6% aller Delikte zur Anzeige gelangen. Mit einer Meldepflicht würde sich dies grundlegend ändern. Schweigen ist die stärkste Waffe der Täter.

Sie plädieren für eine „Kultur des Hinschauens“, was meinen Sie damit? Welche präventiven Maßnahmen sollte es in Zukunft geben?

Hinschauen anstatt wegschauen – sexualisierte Gewalt vollzieht sich vor unseren Augen, und wir sehen sie nicht. Weil wir uns das nicht vorstellen können – oder wollen. Lange Zeit war sexualisierte Gewalt ein Tabu, über das nicht gesprochen werden durfte. Das hat sich geändert. Der Begriff der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz tauchte erstmals 1975 auf – heute bei allen bekannt. Vergewaltigung in der Ehe war lange Zeit kein Straftatbestand, das hat sich geändert. Die Zustimmungslösung „Ja ist ja“ ist in vielen europäischen Ländern heute selbstverständlich. Was geschehen ist, kann niemand ungeschehen machen – es wird immer wieder Opfer sexualisierter Gewalt geben, das müssen wir klar anerkennen. Umso wichtiger, wie die Gesellschaft im Hier und Jetzt auf die Betroffenen reagiert und sie in der Bewältigung einer derartigen Katastrophe unterstützt. 

Und nicht zuletzt sollten Betroffene in die Aufarbeitung eingebunden werden – wie dies die Aufarbeitungskommission seit Jahren macht. Das ist für die Prävention entscheidend, denn die Opfer haben die erforderliche Expertise. Die Reflexion der eigenen Haltung ist wichtig und natürlich, dass Fachleute neben dem Faktenwissen auch über die erforderlichen Handlungskompetenzen verfügen. Von entscheidender Bedeutung ist es außerdem, interdisziplinär zu arbeiten, nur so kann man die „Betriebsblindheit“ der eigenen Disziplin überwinden. Das Problem der sexualisierten Gewaltdelikte kann man nur gemeinsam lösen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. Werner Tschan

Dr. Werner Tschan ist als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie seit 1990 in eigener Praxis tätig. Schwerpunkt ist die Behandlung von Menschen mit Traumafolgestörungen. Neben dem Medizinstudium verfügt Werner Tschan über einen Masterabschluss in „Angewandter Ethik“ der Universität Zürich sowie einen Zertifikatsabschluss in der „Behandlung von Sexualdelinquenten“ der Universität Mainz. Seine langjährige Tätigkeit mit betroffenen Opfern, deren Angehörigen, den Institutionen sowie den Tätern bzw. Täterinnen gibt ihm einen profunden Einblick in die Opfer-Täter-Institutionsdynamik und die systemischen Zusammenhänge im Hinblick auf die Entstehungsbedingungen von sexualisierter Gewalt.
Werner Tschan war Mitglied am Erweiterten Runden Tisch der Deutschen Bundesregierung „Sexueller Kindesmissbrauch“ und er hat die Schweizer Behörden bei der Überarbeitung des Sexualstrafrechtes beraten.

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