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COVID-19: Menschen mit geistiger Behinderung im Krankenhaus

Im Interview mit Tanja Sappok geht es unter anderem darum, wie Sie mit COVID-19 verbundene Therapien verständlich erklären.

Piktogramme und Erklärungen in einfacher Sprache finden Sie weiter unten im grauen Kasten.

Frau Sappok, Sie leiten das Berliner Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge. Was hat sich in den vergangenen Wochen bezüglich Ihrer Arbeit und der Situation im Krankenhaus verändert?
Oh, die Pandemie hat zu weitreichenden Veränderungen in der Klinik geführt, und gerade in der medizinischen Versorgung von Personen mit kognitiver Beeinträchtigung ist es eine besondere Herausforderung, einerseits die erforderlichen Hygienestandards einzuhalten und andererseits auch die persönliche Freiheit nicht zu sehr einzuschränken. Oft muss hier im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit abgewogen – und wie immer gut mit allen Beteiligten kommuniziert werden.

Wie sieht das ganz konkret aus?
Alle Mitarbeiter*innen tragen während der Behandlung einen Mund-Nasen-Schutz, Gruppensituationen sind auf 2-3 Personen im Raum reduziert worden, stattdessen finden häufiger telefonische Besprechungen statt oder wir treffen uns bei akzeptablem Wetter im Freien. Die Belegungszahlen waren anfangs deutlich reduziert, wobei die Notfallversorgung zu jeder Zeit sicher gestellt war. Allmählich wird die Belegung wieder hochgefahren, damit wir auch weiter gut unserem Versorgungsauftrag für psychisch erkrankte Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in Berlin nachkommen. Zu Beginn der Behandlung werden natürlich alle neu aufgenommen Patienten abgestrichen.

In unserem großen ambulanten Bereich haben wir Wartezelte im Freien aufgestellt, so dass Patient*innen bzw. wartende Begleitpersonen sicher und zugleich vor Regen geschützt sind. Außerdem haben wir Plexiglasscheiben anfertigen lassen, die flexibel auf Tischen aufgestellt werden können und Mitarbeiter*innen und Patienten zusätzlich schützen. Naja, und dann haben wir auch unsere Telefonkontakte ausgeweitet und arbeiten gerade an einer videounterstützen Sprechstunde, um die Qualität der digital unterstützen Kontakte weiter zu verbessern.

„Sie konnte einfach überhaupt nicht verstehen, was dieser Mund-Nasen-Schutz soll“

Können Sie einen Beispielfall schildern?
Ein Beispiel für so eine „individuelle Lösung“ ereignete sich ganz zu Beginn der Pandemie, als die Patient*innen noch nicht routinemäßig abgestrichen wurden: Eine junge, gehörlose Frau mit schwerer Intelligenzminderung entwickelte während ihrer stationären Behandlung Husten und bekam deswegen einen SARS-CoV-2 Abstrich. In den zwei Tagen bis zum Vorliegen des Abstrichergebnisses wollten wir sie gerne in ihrem Zimmer isolieren und zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutz bewegen – aber es war nichts zu machen: Sie konnte einfach überhaupt nicht verstehen, was dieser Mund-Nasen-Schutz soll, setze ihn immer wieder ab und drängte aus dem Zimmer auf ihren „Lieblingsplatz“, einem Stuhl mit guten Überblick über die ganze Station, von wo aus sie alles beobachten konnte.

Weil Sie keine Kontakte zu COVID-19-Erkrankten hatte, und kein Fieber oder Laborauffälligkeiten zeigte, die für eine COVID-19-Infektion gesprochen hätten, haben wir uns entschieden, den Bereich um „ihren“ Stuhl mit einem 2 Meter Sicherheitsabstand abzukleben und die anderen Patienten anzuweisen, diesen Bereich nicht zu betreten und keinen Kontakt mit der gehörlosen Patientin zu suchen. Wegen der geringen Belegungszahlen ging das sogar, nach 2 Tagen konnten dann auch diese Sicherheitsmaßnahmen beendet werden – weil der Abstrich negativ ausfiel. Aber daran kann man gut sehen: Man muss im Einzelfall immer die verschiedenen Güter gegeneinander abwägen und darf nicht einfach starr aufgestellte Regeln durchsetzen, damit nicht unverhältnismäßige Schutzmaßnahmen durchgesetzt werden, die zu einer letztlich nicht vertretbaren freiheitsentziehenden Maßnahme dieser Patientin geführt hätten.

Mitarbeiter*innen müssen auch in ihrer Freizeit verantwortungsvoll und vorsichtig handeln

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie?
Die größte Herausforderung wird wahrscheinlich sein, nicht nachlässig zu werden und weiter umsichtig und aufmerksam die nun geltenden Hygienestandards umzusetzen. Das betrifft nicht nur das Verhalten in der Klinik: Alle Mitarbeiter*innen müssen auch in ihrer Freizeit verantwortungsvoll und vorsichtig handeln, um COVID-19 nicht in die Klinik einzuschleppen. Bis hierher hat das gut, nein, sehr gut geklappt. Aber wir haben noch einige Monate vor uns, in denen die Motivation dafür weiter aufrechterhalten werden muss.

Für die meisten ist es schwer die Situation derzeit zu verstehen. Wie erklären Sie Menschen mit geistiger Behinderung, dass sich jetzt soviel verändert?
Nun, wir haben ganz zu Beginn gleich sehr viele unterschiedliche Informationsmaterialien in Leichter Sprache und mit Piktogrammen entworfen, um Personen mit kognitiver Beeinträchtigung zu informieren und aufzuklären. Außerdem haben wir eine zusätzliche Telefonsprechstunde eingerichtet, um persönlich Fragen rund um die Pandemie und COVID-19 zu beantworten. Interessanterweise halten sich viele unserer Patient*innen freiwillig an die neuen Hygieneregeln – zum Einen weil sie gesund bleiben wollen, aber auch weil die Menschen aus ihrem Umfeld ja dasselbe tun, zum Beispiel einen Mund-Nasen-Schutz tragen.

Bei einigen kognitiv schwerer eingeschränkten Patient*innen haben wir durch beharrliches Üben oder Fotos versucht, sie an das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes zu gewöhnen – mit mehr oder weniger Erfolg. Darüber hinaus – und das ist leider auch eine etwas bedrückende Beobachtung – sind viele Menschen mit Intelligenzminderung gewohnt, Dinge zu tun, wozu sie eigentlich keine Lust haben oder deren Sinnhaftigkeit sich ihnen nicht erschließt. Auch wenn das jetzt die Durchsetzung der wirklich wichtigen Hygienemaßnahmen erleichtert, würde ich mir manchmal wünschen, dass meine Patienten mehr Mut hätten, so einiges zu hinterfragen und nicht als gegeben hinzunehmen.

Das Problem verschlimmert sich nochmal, wenn jemand tatsächlich erkrankt ist und beispielsweise isoliert werden muss. Warum?
In der Tat – darauf ist unser Gesundheitssystem nur unzureichend vorbereitet. Aber wir stehen in einem sehr guten Kontakt zum benachbarten Level-2 Krankenhaus, in das Personen aus dem Bezirk mit COVID-19-Erkrankung aufgenommen werden – und zwar mit und ohne kognitive Beeinträchtigung. Hier stehen wir beratend zur Seite, insbesondere auch pädagogisch-pflegerisch, um auch für Personen mit Intelligenzminderung einen optimalen Behandlungsverlauf sicherzustellen. Wir sehen, dass vor allem in ambulanten Wohngruppen noch keine geeigneten Lösungen gefunden wurden, wenn Menschen in Quarantäne gehen müssen, ohne Symptome zu haben. Diese Menschen gehören dann aber nicht in ein Krankenhaus.

Piktogramme machen es einfacher Therapien zu erklären

Sie haben für uns Piktogramme und Beschreibungen in einfacher Sprache angefertigt, die es Menschen mit geistiger Behinderung einfacher machen, mit COVID-19 verbundene Therapien besser zu vestehen. Sie erklären beispielsweise, wie die Maskenbeatmung oder auch eine Intubation funktioniert. Wie sollten die Piktogramme vom Fachpersonal eingesetzt werden?
Die Materialien ersetzen nicht das ärztliche Gespräch und auch nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Aufklärungsbögen für bestimmte invasive Maßnahmen, die im Falle der Gesundheitsfürsorge von gesetzlichen Betreuer*innen unserer Patienten verstanden werden müssen; sie sind eher als Unterstützung und Anregung gedacht, um die Kommunikation zwischen dem medizinischen Fachpersonal und den Patient*innen zu verbessern. Leichte Sprache ist alles andere als „einfach“, und gerade in der Ärzteschaft fehlt dazu oft das nötige Fachwissen. Die Bögen bieten eine Anregung, um mit dem betroffenen Personenkreis in ein gutes Gespräch zu kommen und auf hohem Niveau zu informieren. Alle Bögen wurden von Personen mit kognitiver Beeinträchtigung geprüft und danach nochmal angepasst, so dass nun hoffentlich eine Materialiensammlung entstanden ist, die nicht nur die Inhalte fachlich korrekt darstellt, sondern dies eben auch in einer Form tut, die verstehbar ist.

Die erwähnten Materialien können Sie hier kostenlos herunterladen:  Piktogramme und Beschreibungen in einfacher Sprache von COVID-19 Therapien. Die Symbole stammen aus der Symbolsammlung METACOM von Annette Kitzinger. Sie wurden mit freundlicher Genehmigung zur Publikation freigegeben. Das Copyright liegt weiterhin bei Annette Kitzinger. METACOM ist ein Symbolsystem zur Unterstützung von Kommunikation. Mehr darüber erfahren Sie auf der Webseite https://www.metacom-symbole.de

Können die Beschreibungen und Piktogramme auch Kindern oder Menschen, die weniger gut Deutsch sprechen, beim Verstehen zu helfen?
Durchaus. Oder auch bei Personen mit einer erworbenen Hirnschädigung, einer Demenz oder bei krankheitsbedingten kognitiven Beeinträchtigungen, z. B. einem beginnenden Delir oder einer chronischen Psychose. Für Personen mit Migrationshintergrund gibt es allerdings auch noch häufig zusätzliche Aufklärungsmaterialien in der Muttersprache, diese sollten in jedem Fall genutzt werden.

Gibt es etwas, das Ihnen besonders am Herzen liegt und im Rahme der obigen Fragen nicht gefragt wurde?
Vielleicht nur ein Punkt: Ich bin meinen Mitarbeiter*innen, aber auch den Mitarbeiter*innen in den komplementären Bereichen, den Patient\*innen und den Familien gegenüber dankbar, dass es bisher in Berlin gelungen ist, ein unkontrolliertes Ausbruchsgeschehen im Behandlungszentrum, aber auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu verhindern. Und ich hoffe sehr, dass das auch so bleibt, bis ein Impfstoff verfügbar ist.

Frau Sappok, vielen Dank für das Gespräch!

Tanja Sappok

Priv.-Doz. Dr. med. Tanja Sappok leitet als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie und Nervenheilkunde das Berliner Behandlungszentrum für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge.

Im Sommer 2014 habilitierte sie an der Charité über Autismusdiagnostik bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung. Ein weiterer wissenschaftlicher Schwerpunkt ist der emotionale Entwicklungsansatz (SEO) und dessen Bedeutung für das Erleben und Verhalten von Personen mit geistiger Behinderung. Im Rahmen des Networks of Europeans on Emotional Development (NEED) entwickelte sie die Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED; Hogrefe 2018). Sie lehrt an der medizinischen Fakultät der Charité im Fach Psychiatrie und publiziert diverse wissenschaftliche Fachbeiträge. Sie ist Autorin mehrere Fachbücher. Hogrefe ist von ihr unter anderem Das Alter der Gefühle erschienen.