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Mit gesellschaftlichen Krisen im Schulalltag umgehen

Die Herausforderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Krisen treffen Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Auch die Institution Schule muss sich damit befassen und damit umgehen. Was bedeutet die neue unsichere Normalität für die Schüler*innen, wie können schwierige Themen besprochen und Kinder und Jugendliche gestärkt werden? Und wie können auch Lehrkräfte ihre Ressourcen aktivieren? Prof. Dr. Julia Asbrand und Prof. Dr. Claudia Calvano aus dem Autor*innenteam des Bandes „Umgang mit gesellschaftlichen Krisen im Schulalltag“ aus der Reihe „Psychologie im Schulalltag“ haben unsere Fragen im Interview beantwortet.

Regenbogen als Zeichen der Hoffnung Zuversicht gesesellschaftliche Krisen und Schulalltag Foto: Iri_sha/shutterstock

Welche Krisen sind in der Schule aktuell relevant?

Aus Studien zur Corona-Pandemie wissen wir, dass junge Menschen sich bei der Pandemiebewältigung zu wenig berücksichtigt gefühlt haben. Als unser Buch geplant wurde, war die Pandemie am Abklingen, der Angriffskrieg auf die Ukraine hatte kurz zuvor gestartet, die Dürrejahre - angetrieben durch den Klimawandel - waren voll im Gange. Mittlerweile sind wir durch einige weitere Krisen durchgegangen (z.B. die Energiekrise), während weitere hinzugekommen sind. Durch die Inflation sind viele Menschen in Deutschland besorgt um ihr Einkommen. International kam die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten hinzu. All diese Krisen beschäftigen auch Kinder und Jugendliche und sie nehmen diese Beschäftigung und Belastung auch mit in die Schule. Hinzu kommt der Bildungsauftrag der Schule, sodass Kinder und Jugendliche über Ursachen und Folgen von Krisen wie auch den Umgang mit diesen in einer Demokratie aufgeklärt werden sollen, im Schutzraum Schule auch lernen und erfahren sollen, wie sie selbst gut damit umgehen können. Wie relevant das ist, zeigt sich schließlich auch an der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, am um sich greifenden Populismus, der schlussendlich eine Gefährdung der Demokratie darstellt. Schulen haben den klaren Auftrag, junge Menschen zur eigenverantwortlichen Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Wirksam mit Krisen umzugehen, gehört zu einer solchen Teilhabe zweifellos dazu. 

Zu den im Buch beschriebenen zahlreichen Krisen der letzten Jahre ist nun also noch der Krieg in Nahost dazu gekommen. Kann Schule überhaupt leisten, sich all diesen Krisen und Katastrophen zu widmen?

Nicht jede Krise muss ausführlich im Detail behandelt werden und auch nicht alle Krisen gleichzeitig und solange sie dauern. Es geht ja zunächst darum, aktuelle Ereignisse umsichtig aufzugreifen, wenn eine Krise auftritt. Viele Strategien für den Umgang mit Krisen gelten ganz generell, wie z.B. Zeiten zu schaffen, in denen man sich über diese austauschen kann. Dazu gehört auch Raum für Sorgen und Emotionen zu schaffen, wenn über globale Konflikte oder Krisen im Unterricht inhaltlich gesprochen wird - sei es der Klimawandel in Geographie oder der Nahostkonflikt in Politik. Hier greift unser Ansatz, dass Strukturen von Schule sich grundlegend wandeln sollten.

Daran schließt sich an, dass es gar nicht so sehr um ein “sich leisten können” geht, sondern eher um ein grundlegendes Verständnis, dass man Schule, Lehren und Lernen nicht außerhalb des gesellschaftlichen Kontextes denken kann. Und zu diesem gesellschaftlichen Kontext gehören auch gesellschaftliche und globale Krisen. Wir merken ja auch, dass es nicht funktioniert, die Krisen aus der Schule rauszuhalten. Sie beeinflussen Schule so oder so - wir brauchen also proaktiv Strategien, die das im Kontext Schule zu adressieren. Schule hat den Vorteil, dass man hier im Kleinen Demokratie “üben” kann und Kinder und Jugendliche damit bestmöglich auf die Herausforderungen von morgen vorbereitet werden können.

Reagieren Kinder und Jugendliche generell anders, wenn sie mit Nachrichten über schwierige Situationen konfrontiert werden? Macht es einen Unterschied, wie „nah“ ein Ereignis bzw. eine Phase ist, wie sehr es in den Alltag der Schüler*innen eingreift?

Grundsätzlich macht es etwas aus, ob ich das Gefühl habe, dass etwas weit weg passiert (“der Krieg auf einem anderen Kontinent, die Naturkatastrophe am anderen Ende der Welt”) oder bei mir vor der Haustür. Das ist die sogenannte psychische Nähe bzw. Distanz. Dabei ist wichtig zu wissen, dass es um eine gefühlte Nähe geht - es kann also etwas physisch weit weg stattfinden, das sich gleichzeitig nah anfühlt. In unserer globalisierten Welt mit globalen Krisen ist das ja auch nicht unrealistisch. Ein Wettertief kann sich ausbreiten und auch mich zeitnah erreichen - Raketen haben eine große Reichweite etc. 

Schließlich sind aber Reaktionen auf negative Nachrichten oder Ereignisse auch entwicklungsabhängig - ein Kind im Vorschulalter wird bestimmte Inhalte anders verstehen und anders reagieren als ein Kind im Grundschulalter oder im Jugendalter. Somit besteht die Kunst immer darin, abhängig vom Alter, aber auch vom sonstigen Entwicklungsstand her zu schauen, was ein Kind bzw. ein*e Jugendliche*r versteht und wie sie darauf reagieren sowie darum, wie negative Gefühle und Stress reguliert werden. Dazu müssen wir als Erwachsene offen sein, dass Kinder und Jugendliche vielleicht ganz andere Fragen und Sorgen haben als wir selbst oder auch nicht darüber sprechen wollen - wir müssen also selbst flexibel sein.

Ein wichtiges Konzept, um mit Stress umgehen zu können – Stress wird ja durch die gesellschaftlichen Krisen massiv ausgelöst – ist Resilienz. Wie kann man das Resilienzkonzept auf die Schule beziehen, welche Faktoren sind hier wichtig?

Resilienz bezeichnet auf der individuellen Ebene die Widerstandsfähigkeit, sich trotz ungünstiger Lebensumstände und kritischer Lebensereignisse erfolgreich zu entwickeln. Gerade in unseren aktuellen Zeiten multipler Krisen ist Resilienz ein viel genannter und teilweise auch umstrittener Begriff - z.B. wie resilient Individuen und eine Gesellschaft in Anbetracht so vieler Herausforderungen überhaupt sein können. Für uns im Kontext der Schule ist insbesondere wichtig, dass wir Resilienz nicht als alleinige individuelle Verantwortung missverstehen. So spielen zwar individuelle Ressourcen wie Motivation, Optimismus etc. eine Rolle, aber wir brauchen für einen resilienten Umgang mit Krisen auch den jeweiligen sozialen Kontext: Schulleitungen und Kollegien, das soziale Umfeld, das Hilfesystem oder Faktoren wie die Schulkultur - genauso wie strategische Ressourcen, d.h. Wissen, wo ich Hilfe und Unterstützung bekomme.

Wenn man nun das Resilienzkonzept auf die Schule bezieht, sind sowohl einzelne Personen, d.h. die Schüler*innen, Lehrkräfte und anderes Personal, wie auch das System Schule an sich angesprochen. In Bezug auf die Schüler*innen ist sogar zuallererst das System Schule angesprochen. In der Schule müssen wir in Anbetracht der großen Krisen der Welt sowohl eine Bewältigung und Anpassung auf die Krisen mitdenken wie z.B. eine wirksame Krisenintervention, als auch die Transformation des Systems selbst, um es nachhaltig resilienter zu machen. Dazu gehört beispielsweise ein kooperatives und partizipatives Schulklima. Und Resilienz heißt in diesem Zusammenhang nicht nur, sich kurzfristig an die Krisen anzupassen, sondern sich auch längerfristig gemeinsam so zu entwickeln, dass an der Beendigung von Krisen aktiv mitgewirkt werden kann und künftigen Krisen zusammen vorgebeugt wird.

Wie wichtig ist es gerade für Kinder und Jugendliche, die Gewissheit zu entwickeln, dass sie etwas ändern können, zum Besseren wenden können, dass sie Selbstwirksamkeit erfahren?

Das ist - auch abseits von globalen und gesellschaftlichen Krisen - absolut essentiell. Selbstwirksamkeit gehört dazu, dass wir uns psychisch gesund und handlungsfähig fühlen. Das kann natürlich mal schwanken - wir fühlen uns vielleicht einem Lehrplan ausgeliefert oder dem Willen anderer Menschen. Aber das grundsätzliche Gefühl, dass wir unser Leben steuern können, ist entscheidend für unser Wohlbefinden. Bei globalen Krisen ist das natürlich nicht einfach. Niemand kann diese allein lösen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns zusammentun und im Kleinen gemeinsam Wirksamkeit erleben.

Dies spiegelt sich auch in dem Ansatz der sinnorientierten Bewältigung wider: Hier geht es darum, die Krise als solche zu akzeptieren, ohne sich von ihr überfordern zu lassen. Das kann dann gut gelingen, wenn ein eigener sinnstiftender Beitrag gefunden wird, die Gewissheit besteht, dass man nicht allein an der Krise arbeitet, sondern auch andere wirksam dabei sind, und wenn letztlich in einer Krise auch gewisse Chancen gesehen werden können - z.B. das soziale Moment, oder die Ermöglichung von Errungenschaften, die vor der Krise nie denkbar waren.

Im Buch werden viele Techniken beschrieben, um Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte zu stärken und Ressourcen zu aktivieren. Welche Bewältigungsmöglichkeiten sehen Sie für Lehrkräfte? Wie können diese es schaffen, als Vorbilder zu dienen?

Vielleicht kennen Sie die Sicherheitsdurchsage in Flugzeugen. Hier heißt es, dass man im Notfall sich selbst eine Atemmaske aufsetzen soll und erst dann andere, die Hilfe benötigen, unterstützen soll. Das soll keinesfalls ein Freifahrtschein für Egoismus sein, sondern ganz im Gegenteil unterstützt es die Idee, die grundsätzlich gilt: Nur wenn ich selbst für den Notfall gut gerüstet bin, kann ich andere unterstützen. Für Lehrkräfte bedeutet dies, dass auch sie Unterstützung im Umgang mit sozial-ökologischen Krisen brauchen. 

Auch wenn der Umgang mit gesellschaftlichen Krisen im Schulalltag wichtig ist, möchten wir den Lehrkräften vermitteln, dass sie keine globalen Krisen allein lösen können und dafür auch nicht allein verantwortlich sind, ebenso wenig wie ihre Schulen oder Schule im Allgemeinen. Sie brauchen Pausen im Alltag und dürfen sich weder für den Unterricht noch für globale Krisen komplett aufreiben. Wir geben also zum einen Hinweise dazu, was globale Krisen auch mit uns Erwachsenen machen. Wir stellen zum anderen heraus, wie Lehrkräfte in der Schule als Modell für sinnorientierte Bewältigung dienen können, z.B. indem auch sie ansprechen, dass sie für globale Krisen keine direkte Lösung haben und diese ihnen Sorgen bereiten, aber sie sich mit den Schüler*innen gemeinsam engagieren wollen. Grundsätzlich brauchen auch Erwachsene Raum für den Austausch, wie es ihnen geht. Optimalerweise findet das mit anderen Erwachsenen statt, sodass die Lehrkräfte für sich klar haben, wie es ihnen geht und was sie machen wollen - und erst im Anschluss zurück in die Klasse gehen. Außerdem sind Lehrkräfte oft als “Einzelkämpfer*innen” unterwegs. Wir wollen ermutigen, sich Unterstützung, z.B. im Kollegium, zu suchen.

Kann eine Schule, die den Umgang mit gesellschaftlichen Krisen lernt, auch eine bessere Schule sein, gerade durch die Beschäftigung mit Herausforderungen und schwierigen Phasen und den Blick auf die globale Entwicklung?

Auf jeden Fall hat das viel Potenzial: Mit globalen Krisen umzugehen heißt, sich mit Unsicherheit zu konfrontieren, sich mit eigenen Grenzen zu beschäftigen und Flexibilität zu üben. Auch gehört dazu eine Offenheit und Einladung dazu, den Gefühlen, Belastungen und Sorgen eine Raum zu geben und die Möglichkeit zu haben, sich darüber auszutauschen. Das heißt, es geht eben nicht nur um Fakten, sondern auch darum, wie es uns mit diesen Fakten geht.

Das sind Dinge, die momentan im Lehrplan wenig Raum haben, aber ganz grundlegende Fähigkeiten sind, um mit “der Welt da draußen” gut klarzukommen. Wenn Schulen einen Umgang mit gesellschaftlichen Krisen lernen, ist das ein ganz wertvoller wichtiger Schritt, das Potenzial vom Bildungssystem auszuschöpfen: Schule hat die Möglichkeit, in einem gesicherten und begrenzten Rahmen gesellschaftliche Prozesse im Kleinen zu üben und Kinder und Jugendliche damit fit zu machen. Wichtig ist nur, dass wir parallel auch an der Gesellschaft selbst etwas ändern und uns z.B. auf grundlegende Werte wie Demokratie, Nachhaltigkeit, Gesundheit und sozialen Zusammenhalt verständigen und diese Aufgabe nicht allein in die Schule abgeben.
 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Julia Asbrand

Prof. Dr. Julia Asbrand, geb. 1985, 2005-2011 Studium der Psychologie in Freiburg im Breisgau. 2011-2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2014-2019 Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Approbation VT). 2016 Promotion. 2020-2023 Professorin für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2023 Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Multimethodale Grundlagen- und Psychotherapieforschung, Angst im Kindes- und Jugendalter, Auswirkungen gesellschaftlicher Krisen auf Kinder und Jugendliche.

Prof. Dr. Claudia Calvano

Prof. Dr. Claudia Calvano, geb. 1984. 2004-2012 Studium der Psychologie in Tübingen, Oslo und Potsdam. 2012-2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promotion an der Universität Potsdam. 2012-2017 Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Approbation VT). 2018-2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité – Universitätsmedizin Berlin. 2021-2022 Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin. 10/2022-03/2023 Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, seit 04/2023 Universitätsprofessorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Psychotherapieforschung, Trauma, Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie, Global Mental Health.

Dipl.-Psych. Lea Dohm

Dipl.-Psych. Lea Dohm, geb. 1982, 2000-2006 Studium der Psychologie und Sozialwissenschaften an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg. 2011-2014 Weiterbildung zur Fachjournalistin. 2011 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin. 2019 Mit-Initiatorin der Psychologists/Psychotherapists for Future. Seit 2022 Wiss. Mitarbeiterin bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG). Arbeitsschwerpunkte: Psychische Gesundheit im Rahmen von Planetary Health, Psychotherapie, „Klimapsychologie“, individuelles und gesellschaftliches Transformationserleben.
Foto: © KLUG

Dr. Felix Peter

Dr. Felix Peter, geb. 1984, 2003-2008 Studium der Psychologie in Halle (Saale). 2008-2012 Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2011-2013 Psychologe im Kriseninterventionsteam beim Jugendamt der Stadt Halle (Saale). Seit 2013 Schulpsychologischer Referent im Landesschulamt Sachsen-Anhalt. Arbeitsschwerpunkte sind u.a.: Krisenintervention, Lehrkräftefortbildung, Schulentwicklung.