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Ökonomisierung der Medizin: Interview zum Schwerpunktheft

Die aktuelle Ausgabe von Praxis – Schweizerische Rundschau für Medizin beschäftigt sich mit der Ökonomisierung der Medizin. Aus diesem Anlass haben wir den drei Herausgebern dieses Schwerpunkthefts zehn Fragen gestellt: Prof. Dr. Suter (Zürich), Prof. Dr. Steurer (Zürich) und PD Dr. Markus Schneemann (Schaffhausen).

Wachstum ist gut. Damit es allen besser gehen kann, muss die Wirtschaft wachsen. Das kapitalintensive Gesundheitssystem kann aber nur wachsen, wenn bei immer mehr Menschen immer mehr Leiden diagnostiziert werden, gegen die sie immer intensiver behandelt werden müssen. Die Folgen können unnötige Operationen und Therapien sein. Dadurch leiden Patient*innen, weil sie sich kränker wähnen, als sie wirklich sind.

Und doch ging es Kranken nie besser als heute. Es ist noch nicht lange her, da prägten Äther, Amputation und Blutegel den medizinischen Alltag. Heute werden Kernspin, Titangelenke und minimalinvasive Operationstechniken geboten. Hightech statt Arzt-Patienten-Gespräche?

Wie entstand die Idee zu diesem Schwerpunktheft? War es ein Gedankenblitz oder war es ein langwieriger Prozess?
Suter:
 Im medizinischen Arbeitsalltag sind Kostenaspekte zunehmendem wichtig. Schwerpunkthefte sollten wichtige Themen unserer Arbeit umfassen – da gehören ökonomische Aspekte also dazu. Es war kein Gedankenblitz – sondern, wie wir alle wissen, ein Dauerbrenner.
Es ist nichts Neues, dass die Medizin nicht unabhängig von der Ökonomie gesehen werden kann. Trotzdem wundern wir uns, dass der Begriff der Ökonomisierung in den letzten Jahren immer häufiger verwendet wird. Gemäss unserer Einschätzung war das früher nicht der Fall.
Wir hoffen, dass uns die verschiedenen Autor*innen Erklärungen für die vermehrte Verwendung dieses Begriffs präsentieren können. Ebenso erhoffen wir eine Antwort bezüglich der Konsequenzen der zunehmenden Ökonomisierung für die Entwicklung der Medizin und im Besonderen auch bezüglich der Qualität der Betreuung unserer Patient*innen.

„Die Qualität unserer Arbeit hat Priorität“

Warum ist Ihnen als Mediziner das Thema wichtig?
Suter:
 Die Qualität unserer Arbeit und Betreuung der Patient*innen hat oberste Priorität. Wie kann sie in einer vom Geld dominierten Gesellschaft sichergestellt werden? Dieser Frage müssen wir uns stellen.

Haben Sie als Privatperson, bzw. als Patient dieselbe Meinung?
Suter:
 Selbstverständlich, sonst hätte ich nicht mit meinen Kollegen an diesem Heft mitgearbeitet.

18 Essays von 18 Autor*innen. Geschrieben haben Ökonomen, Schriftsteller*innen, Politiker*innen und natürlich auch Mediziner*innen. Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie die Autor*innen ausgewählt?
Suter:
 Wir wollten eine vielseitige Mischung: von Ökonomen, verschiedenen Playern im Gesundheitssystem, erfahrenen Kolleg*innen und verschiedenen Intellektuellen wie z.B. Schriftsteller*innen. Grundsätzlich können alle etwas zu dem Thema sagen – aber nicht allen wird zugehört.

Fehlt Ihnen ein Aspekt in dem Heft, weil sich vielleicht keine geeignete Autor*in gefunden hat?
Suter:
 Das aktuelle Heft stellt fürs Erste einen perfekten Mix dar. Jetzt sind die Leser*innen als Autor*innen gefragt: Entsprechend haben wir eine leere Seite ins Heft eingefügt. Alle von uns haben eine Meinung und einen sinnvollen Input zu diesem Thema. Ich hoffe, dass viele diese Möglichkeit nutzen, denn eine Lösung können wir nur gemeinsam finden. Unsere Leser*innen und Kolleg*innen sind die geeignetsten Autoren. Sie kennen die Thematik seit Jahren aus ihrem Alltag. Ohne ihren Input auf dieser leeren Seite wäre die leere Seite für den Verlag tatsächlich „zu teuer“ – somit sind wir schon wieder bei den Finanzen. Wir freuen uns über vollgeschriebene Seiten.

Es wird in einigen Beiträgen thematisiert und ist auch oft in den Medien zu lesen und zu hören: In der Medizin werden in unseren Breitengraden die falschen Prioritäten gesetzt. Es werden Hightech-Projekte für Milliarden eingeweiht, die prestigeträchtigste Entwicklung der Forschung wird gefördert. Es wird immer versucht, noch genauer in den Körper zu schauen. Aber das, was die Medizin auch ausmacht – der Kontakt von Mensch zu Mensch – bleibt dabei oft auf der Strecke, weil mit Arzt-Patienten-Gesprächen kein Geld verdient wird. Kann man das so schlicht ausdrücken?
Streuer:
 Wie im Heft zum Ausdruck kommt, ist der Sachverhalt komplexer als in der obigen Fragestellung zusammengefasst. Der Kontakt und die Kommunikation sind zentral für unsere Arbeit – in welchem Lebensbereich nicht?

Schneemann: Der Vorrang der Ökonomie, unsere Tarifsysteme (Tarmed / DRG), der Grundgedanke „Fee for service“ führen dazu, dass die Ärzt*innen vor allem das machen, was Geld bringt und auch diejenigen Sparten in der Medizin gewählt werden, die Geld bringen. Berufssparten, die in dieser Hinsicht weniger attraktiv sind, haben deswegen stark mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen, Stichwort: Hausarztmedizin, Psychiatrie. Hier haben wir in der reichen Schweiz in gewissen Regionen eine Unterversorgung, dafür bei gewissen Spezialgebieten und Regionen eine Überversorgung (siehe die aktuelle Zulassungsdiskussion für verschiedene Spezialgebiete im Kanton Zürich).

Es heisst, immer häufiger stünden Kosten-Nutzen-Abwägungen des ärztlichen Tuns im Vordergrund. Ist Ihnen in Ihrer täglichen Arbeit bewusst, welche Behandlungen Ihrem Arbeitgeber mehr Geld bringen als andere?
Suter:
 Die Kenntnis der Kosten einer Arbeitshandlung und die entsprechende Kosten-Nutzen-Abwägung gehören zu unserem Alltag. Am Ende der Entscheidungskette sind jedoch (zumindest im Moment noch) die Qualität der Betreuung und das Wohlergehen der Patienten bestimmend.

„Jede*r sollte Ärzt*innen des Vertrauens haben“

Patient*innen sind verunsichert: Krankheiten werden erfunden und unnötige Medikamente verschrieben. Die Anzahl intensiver Untersuchungen hängt nicht vom Verlauf der Krankheit ab, sondern von der Verfügbarkeit und vom Abschreib-Bedarf teurer Geräte. Wie kann ich mich als Patient*in schützen oder wehren?
Suter:
 Jede*r sollte Ärzt*innen des Vertrauens haben, um sich im immer komplizierter werdenden Medizin-System zurechtzufinden, also Verunsicherung beseitigen und eine Gatekeeper-Funktion in evidenzbasierter Art und Weise sicherstellen.

Schneemann: Hier sehen wir auch die Medien in der Pflicht, die gerne über technische Innovationen berichten und wenig über die oben beschriebene Unterversorgung.

Was würde im Idealfall diese Ausgabe der Praxis bewirken?
Suter:
 Die Vielfalt der Autor*innen und Inhalte wirkt sicherlich auf alle Leser*innen stimulierend. Das genügt schon mal.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

Hinweis: Das Praxis-Schwerpunktheft “Die Ökonomisierung in der Medizin” ist am 4. März 2020 erschienen. Sie finden die aktuelle Ausgabe der Praxis im Hogrefe eContent

Prof. Dr. med. Paolo M. Suter

Prof. Dr. med. Paolo M. Suter ist Facharzt für Innere Medizin und arbeitet als Leitender Arzt an der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin. 

Prof. Dr. med. Johann Steurer

Prof. em. Dr. med. Johann Steurer war bis Ende 2019 ausserord. Professor für Innere Medizin und Leiter der Horten-Zentrums für praxisorientierte Forschung und Wissenstransfer.

Dr. med. Marcus Schneemann

PD Dr. med. Marcus Schneemann ist seit 2017 Chefarzt der Klinik für Innere Medizin der Spitäler Schaffhausen.