Spätestens seit den Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitswelt ist das Thema psychologische Sicherheit prominenter denn je. Auch zuvor bestand durch die Schnelllebigkeit, Volatilität und den wachsenden Wettbewerb sowie disruptive Technologien bereits ein gewisser Druck auf Unternehmen, sich zu wandeln, anzupassen und zu modernisieren, um am Markt zu bestehen. Mit dieser Artikelreihe wollen wir aufzeigen, dass psychologische Sicherheit im Rahmen von Wandlungsprozessen einen bedeutenden Faktor darstellt. In der ersten Ausgabe betrachten wir das theoretische Konzept der psychologischen Sicherheit, so wie es von Edmondson in ihrem Leitartikel 2014 beschrieben wurde und bringen dieses in Zusammenhang mit Modellen zu organisationalen Veränderungsprozessen. In den beiden folgenden Artikeln widmen wir uns konkret der Rolle psychologischer Sicherheit in Wandlungsprozessen und analysieren ein Anwendungsbeispiel von psychologischer Sicherheit in einer agilen Transformation.
Was ist psychologische Sicherheit?
Psychologische Sicherheit beschreibt die individuelle Überzeugung eines Menschen, dass es sicher ist, zwischenmenschliche Risiken einzugehen (Edmondson, 1999). Im organisationalen Kontext kann es sich dabei beispielsweise um das Einbringen einer unkonventionellen Idee, Kritisieren, Hinterfragen, das Austragen eines Konflikts oder das Gestehen eines Fehlers handeln. Diesem Verhalten folgen in einem psychologisch sicheren Umfeld keine negativen Konsequenzen von KollegInnen und Vorgesetzten weder für das Selbstbild, den Status oder die Karriere noch Schuldzuweisungen oder Vergeltungsmaßnahmen (Edmondson, 1999; Edmondson, 2018; Kahn, 1990).
Anders hingegegen entstehen Angst und Unsicherheit, wenn die Kultur einer Organisation kritische Haltungen und eine offene Ansprache nicht zu zulässt. Stress und Burnout nehmen zu und beeinträchtigen die Individuen. Für das gesamte Unternehmen heißt das, dass Mitarbeitende nicht ihre volle Leistung einbringen, problematische Themen nicht angesprochen werden, Fehler nicht als Lernmöglichkeit genutzt und Innovationen erst gar nicht gedacht werden (Rolfe, 2018).
Schein und Bennis (1965) sowie Kahn (1990) haben das Konstrukt der psychologischen Sicherheit zunächst als eine individuelle Wahrnehmung untersucht. Edmondson (1999) hingegen definiert psychologische Sicherheit als geteilte Wahrnehmung innerhalb eines Teams. Sie betrachtet psychologische Sicherheit somit als eine Variable auf Gruppenebene. Die Ansätze stehen dabei nicht im Widerspruch zueinander. Beide Ansätze legen nahe, dass ein Arbeitsplatz geschaffen werden soll, an dem die Wahrnehmung zwischenmenschlicher Risiken minimiert wird, sodass sich die Bereitschaft erhöht, sich mit eigenen Ideen an einem gemeinsamen Unternehmen proaktiv zu beteiligen (Edmondson und Lei, 2014). Nach Edmondson zeichnet sich ein psychologisch sicherer Arbeitsplatz entsprechend dadurch aus, dass die zwischenmenschliche Zusammenarbeit der Mitarbeitenden darin besteht, sich auszuprobieren, neugierig zu sein sowie neue und bestehende Prozesse kontinuierlich zu hinterfragen (Edmondson, 2018; Edmondson & Lei 2014).
Die Ursprünge zu Edmondsons Theorie stammen aus Beobachtungen der Zusammenarbeit in Krankenhäusern (Edmondson, 1996). Edmondson untersuchte, wie die Qualität von Teams (Zusammenarbeit, Zusammenhalt und Kommunikation gemessen im Rahmen einer Team-Effektivität-Umfrage) mit der Anzahl an Medikationsfehlern zusammenhängt. Dabei kam sie zu einer kontraintuitiven Erkenntnis: Teams mit höherer Team-Effektivität gaben mehr menschenverschuldete Medikationsfehler an als Teams, die eine niedrigere Team-Effektivität aufwiesen. Edmondson vermutete daraufhin, dass hoch effektive Teams über eine Kultur der Offenheit verfügten und transparenter mit Fehlern umgingen. Nach weiteren Untersuchungen bestätigten sich ihre Einschätzung über die Offenheit der Teamkultur: Diese ist nahezu perfekt positiv korreliert mit der Anzahl der gemeldeten Medikationsfehler. Die von Edmondson als hoch effektiv identifizierten Teams machten also nicht mehr Medikationsfehler, sondern waren lediglich offener im Umgang mit gemachten Fehlern. In diesen Teams wurde es nicht nur akzeptiert, sondern gefordert Bedenken, Fragen, Ideen und Fehler anzusprechen. Diese Teams reagierten auf Fehler nicht mit Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen, sondern suchten nach Konsequenzen und Lösungen, um die gemachten Fehler in Zukunft zu vermeiden. In späteren Studien untersuchte Edmondson weitere Aspekte sowie Auswirkungen von psychologischer Sicherheit. Beispielsweise konnte sie nachweisen (Edmondson, 1999), dass psychologische Sicherheit das Lernverhalten von Teams (i.S.v. Feedback einholen, Informationen weitergeben, um Hilfe bitten, über Fehler sprechen und experimentieren) positiv beeinflusst. Lernverhalten wiederum ist ein signifikanter Prädiktor von Team-Leistung. Darüber hinaus stellte sie heraus, dass psychologische Sicherheit indirekt, mediiert durch die Variable Lernverhalten, die Leistung des Teams beeinflusst: Je höher die wahrgenommene psychologisch Sicherheit, desto höher ist das Lernverhalten des Teams, was wiederum zu erfolgreicheren Ergebnissen der Teams, mehr Innovation und kontinuierlichem Lernen der Organisation beiträgt.
Psychologische Sicherheit ist eine wünschenswerte Team-Eigenschaft für nahezu alle Arbeitskontexte, in denen eine hohe Komplexität herrscht. Bei Abwesenheit einer solchen Offenheit durch psychologische Sicherheit sind Mitarbeitende davon abgehalten Fragen zu stellen, den Status Quo zu hinterfragen oder neue Ideen und Meinungen anzubringen. Sie fürchten Gesichtsverlust. Dies wiederum hindert (gemeinsames) Lernen, Innovation und Fortschritt; nicht nur für die Mitarbeitende selbst, sondern auch für gesamte Teams und die Gesamtorganisation (Edmondson, 2014).
Organisationale Veränderungsprozesse sind Situationen mit hoher Komplexität und Unsicherheit für die Beteiligten. Dabei ist eine Bewältigung dieser Situation auch von der Entwicklungsstufe einer Organisation abhängig.
Im folgenden werden zwei Modelle vorgestellt, die den Reifegrad einer Organisation in verschiedenen Stufen beschreiben und erläutert, welche Zusammenhänge es in Bezug auf psychologische Sicherheit gibt.