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Sexueller Missbrauch von Kindern – Möglichkeiten der Prävention

Von Ao. Univ. Prof. Dr. Gabriele Amann.

Sexueller Missbrauch ist ein schwerwiegendes Problem in unserer Gesellschaft. Studienergebnisse weisen darauf hin, dass in etwa 20% der Mädchen und 8% der Jungen einen sexuellen Missbrauch erleben. Eine wichtige Strategie gegen das große Leid und die vielfältigen Probleme, die auf einen sexuellen Missbrauch folgen können, ist es neue Fälle von sexuellem Missbrauch zu verhindern.

Sexueller Missbrauch Prävention ist wichtig unglückliches Mädchen mit Kuscheltier

Seit über 40 Jahren wird versucht, adäquate Präventionsstrategien zu entwickeln und im Verlauf der Jahre wurden diese immer breiter eingesetzt. Dennoch ist es nicht gelungen, die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch maßgeblich zu reduzieren. Dies liegt nicht zuletzt an dem komplexen Bedingungsgefüge und den vielen Faktoren, die dafür verantwortlich sein können, dass es zu einem sexuellen Missbrauch kommt. Was die Frage aufwirft, ob in bisherigen Präventionsstrategien möglicherweise wichtige Faktoren und Bedingungen zu wenig berücksichtigt wurden. Diese und weitere praxisnahe Themenstellungen werden im Band Sexueller Missbrauch an Kindern. Grundlagen, Therapie und Prävention fundiert und ausführlich behandelt.

Was bringt Menschen dazu, Kinder sexuell zu missbrauchen?

Diese Frage beschäftigt viele und sie wird häufig gestellt. Aufgrund der Vielzahl möglicher Einflussfaktoren ist diese Frage nicht einfach beantworten. Sie ist aber für die Entwicklung von Präventionsstrategien von grundlegender Bedeutung, denn Prävention muss - wenn sie effektiv sein will - an den Ursachen ansetzen.

Zentral im Bedingungsgefüge ist die Motivation des Täters. Diese kann darin begründet sein, dass sich viele Täter zu Kindern und ihrer Welt hingezogen fühlen. Das Denken und Fühlen von Kindern ist ihnen näher als jenes von Erwachsenen. Frühe Traumata in der Kindheit können dafür verantwortlich sein. Eigene Missbrauchserlebnisse gelten als zentraler Risikofaktor in späteren Jahren selbst zum Täter zu werden. Viele Täter leiden unter Selbstwertproblemen, Gefühlen der Unzulänglichkeit und sozialen Kompetenzdefiziten. Deshalb fühlen sie sich in Kontakten mit Gleichaltrigen gehemmt, unterlegen und ängstlich und bevorzugen Kinder als Interaktionspartner. Zudem zeigen Missbrauchstäter häufig antisoziales Verhalten und Empathiedefizite. Diese beiden Faktoren gelten als die zentralen Risikofaktoren für delinquentes Verhalten. Kommt noch ein sexuelles Interesse an Kindern hinzu, erhöht sich spezifisch das Risiko für einen sexuellen Missbrauch. Das sexuelle Interesse an Kindern kann auf eine pädophile Störung zurückzuführen sein, auch der Wunsch nach Machtausübung kann eine zentrale Rolle spielen, um im sexuellen Kontakt mit Kindern Überlegenheit, Stärke und Kontrolle zu erleben.

Alle diese Faktoren bilden den Hintergrund für die Motivation des Täters, die in der Folge von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Diese Faktoren können die Motivation hemmen, diese auch verstärken. Dabei spielen das Ausmaß an bestehenden inneren oder äußeren Hemmnissen und der Widerstand des Opfers eine wesentliche Rolle. In seinen Überlegungen, Planungen und Verhaltensinitiativen wird vom Täter mehr oder weniger bewusst analysiert und abgewogen, welche Voraussetzungen bei einem Kind gegeben sind. Das Ergebnis dieses Prozesses bestimmt, ob der Täter aktiv wird und erste Initiativen setzt und vom Ausgang dieser Initiativen, wird es abhängen, ob er seine Strategien fortsetzt oder er diese abbricht.

Üblicherweise werden in unserer Gesellschaft sexuelle Kontakte mit Kindern als inakzeptable Handlungen gesehen. Die damit verbundene Gefahr einer sozialen Ächtung ist ein schwerwiegendes äußeres Hemmnis und kann Täter davon abhalten, sexuelle Missbrauchshandlungen zu begehen. Aber es existieren zahlreiche Mythen, welche das Verbot von sexuellem Missbrauch außer Kraft setzen können. Diese Mythen zeigen Situationen und Rahmenbedingungen auf, unter welchen sexuelle Übergriffe als „normale“ Reaktionen eingestuft werden können.  Als weiteres äußeres Hemmnis sind Strafen zu nennen, die sexuelle Handlungen mit Kindern bedrohen. Dieses Hemmnis steht und fällt jedoch mit der Gefahr, dass der geplante sexuelle Missbrauch offengelegt und der Täter mit einer Verurteilung zu rechnen hat.

In unserer Gesellschaft existieren somit moralische und gesetzliche Normen gegen einen sexuellen Missbrauch an Kindern, die sicherlich von großen Teilen unserer Gesellschaft verinnerlicht wurden und somit als innere Hemmnisse fungieren. Missbrauchstäter müssen daher diese inneren Hemmnisse außer Kraft setzen, um entsprechend ihrer Motivation handeln zu können. Die beim Täter entstehenden kognitiven Dissonanzen können über Denkmuster, die sexuelle Kontakte mit Kindern rechtfertigen und in einen positiven Kontext stellen, gelöst werden. Hier greifen Täter auf existierende Mythen zur männlichen Sexualität und zum sexuellen Missbrauch zurück. So gelingt es Tätern sexuell übergriffiges Verhalten gegenüber Kindern zu rechtfertigen. Sie können somit Bedenken ausräumen, negative Gefühle vermeiden und ein positives Selbstbild aufrechterhalten. Auch psychische Auffälligkeiten des Täters können dazu führen, dass gesellschaftliche und soziale Normen nicht in dem Ausmaß wahrgenommen oder verinnerlicht wurden.

Ein weiterer Bereich, der die Tätermotivation herabsetzen kann, ist der zu erwartende oder der tatsächliche Widerstand des Opfers. Ein potentielles Opfer kann auf unterschiedliche Art und Weise den Planungen eines Täters und seinen Handlungen Widerstand entgegensetzen und sich dem Täter gegenüber als resilient präsentieren. Missbrauchstäter wählen sehr gezielt ihre Opfer aus, wobei hier nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern auch situative Faktoren, wie die Betreuungssituation einfließen. Kinder, die unter dysfunktionalen familiären Verhältnissen aufwachsen, stehen unter einem deutlich erhöhten Risiko, sexuell missbraucht zu werden. Bei diesen Kindern sind Bedürfnisse nach Zuneigung, Nähe und Zärtlichkeit aber auch nach Orientierung, Zugehörigkeit und Anerkennung besonders ausgeprägt. Täter nutzen diese kindlichen Bedürfnisse und auch die mangelnde Beaufsichtigung, den fehlenden sozialen Rückhalt der Kinder für eigene Zwecke. Demgegenüber können aufgeklärte, selbstsichere und kompetente Kinder Annäherungen von potentiellen Tätern häufig bereits im Ansatz erkennen und mit deutlichem Widerstand entgegentreten. Ein funktionales familiäres Umfeld, das dem Kind hinreichend Sicherheit, Rückhalt und regen Austausch bietet, wo Vertrauensbeziehungen existieren, bietet Kindern den besten Schutz.

Welche präventiven Maßnahmen sind möglich und welche sind zu empfehlen?

Ziel von präventiven Maßnahmen sollte sein, jene Bedingungen zu eliminieren, welche die Motivation von Tätern bzw. potentiellen Tätern fördern und jene Faktoren aufzubauen und zu stärken, welche dessen Motivation hemmen. Zur Erreichung dieses Zieles bieten sich vor allem Täter bzw. potentielle Täter als Ansatzpunkte an und Interventionsmöglichkeiten sind hier vielfältig. Sie reichen von breiten, unspezifischen Maßnahmen, die sich an Kinder richten und der Förderung von Empathie, sozialer Kompetenz, Selbstwert und Achtsamkeit im Umgang mit Anderen dienen, über spezifischere Interventionen bei jugendlichen Risikogruppen bis hin zu evidenzbasierten psychotherapeutischen Behandlungen von bereits auffällig gewordenen Missbrauchstätern.

Daneben sind auch Programme möglich, die am Widerstand der Opfer ansetzen, sich somit an Opfer und potentielle Opfer richten. Diese Programme klären Kinder über die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs auf und stärken sie, sich gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen bzw. derartige Erlebnisse umgehend offenzulegen. Doch ethische Bedenken sprechen eigentlich gegen einen breiten Einsatz derartiger Programme, setzen sie doch beim schwächsten Glied im Prozess des sexuellen Missbrauchs an. Zudem schreiben sie den Kindern - wenn schon nicht explizit, so doch implizit - die Verantwortung für die Verhinderung oder Beendigung eines sexuellen Missbrauchs zu. Das „empowerment“-Modell, auf dem viele dieser Programme beruhen, ist zwar prinzipiell zu begrüßen, weil dadurch die Resilienz von Kindern generell verbessert werden kann. Es darf aber nicht vergessen werden, dass Kinder Erwachsenen tatsächlich unterlegen sind und sie deren Unterstützung und Fürsorge für ihr Überleben und ihre Entwicklung benötigen. Kinder können nur in einem Ausmaß stark sein, wie Erwachsene dies zulassen.

Sogenannte Bystander-Programme scheinen ein deutlich sinnvollerer und auch effektiverer Weg in der Prävention von sexuellem Missbrauch zu sein. Neben der Stärkung der Kinder zielen sie auch darauf ab, erwachsenen Bezugspersonen – wie Eltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Betreuer*innen - die Verantwortung für die Sicherheit der Kinder zu übertragen. Bystander-Programme verbessern über den Aufbau eines „Schutzschildes“ nicht nur die Widerstandmöglichkeiten des Opfer, sie tragen auch wesentlich zur Stärkung äußerer Hemmnisse bei, indem Mythen in Frage gestellt, der Bagatellisierung von sexueller Gewalt gegen Kinder entgegengewirkt und generell das Bewusstsein für Kinderrechte gestärkt werden. Bystander, die ihre Verantwortung gegenüber Kindern ernst nehmen, sind besser fähig und auch besser geeignet als die Kinder selbst, Annäherungen eines Täters zu erkennen und einen sexuellen Missbrauch zu verhindern bzw. einen Missbrauch offenzulegen und auf diese Weise das Opfer zu schützen.

Insgesamt betrachtet, ist Prävention in allen gesellschaftlichen Bereichen möglich und alle Mitglieder unserer Gesellschaft können ihren Beitrag dazu leisten. Die Politik ist über Gesetzgebung und Schaffung von adäquaten Ressourcen für Strafverfolgung und Behandlungseinrichtungen in gleicher Weise gefordert wie Medien durch eine angemessene Berichterstattung und adäquate Informationsvermittlung. Auch Institutionen, Vereine, Schulen, Kindergärten und Betreuungseinrichtungen können durch geeignete strukturelle Maßnahmen, Förderung von Transparenz und einem expliziten und verbindlichen „Code of Conduct“ einen wichtigen Beitrag zur Prävention leisten. Zudem sind Familien und Einzelpersonen, wenn sie ihre Verantwortung zum Schutz von Kindern wahrnehmen, wichtige Akteure in der Prävention von sexuellem Missbrauch.

Prof. Dr. Gabriele Amann

Ao. Univ. Profin. Drin. Gabriele Amann, geb. 1960. 1978 – 1984 Studium der Psychologie an der PLUS in Salzburg. 1984 Promotion. 1983 – 1999 Assistentin am Institut für Psychologie, Abteilung für Klinische Psychologie, Gesundheitspsychologie und Psychotherapie der PLUS in Salzburg. 1999 Habilitation an der Universität Dortmund. Seit 1999 Professorin am Fachbereich Psychologie der PLUS in Salzburg, Leitung der Arbeitsgruppe Forensische und Klinische Psychologie des Kindes und Jugendalters. Seit 1992 eingetragene Klinische und Gesundheitspsychologin sowie Psychotherapeutin. 2009 – 2020 eingetragene Gerichtssachverständige.

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