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DeutschSchule und Entwicklung

Sozial-emotionale Kompetenzen effektiv im Deutsch- und Sachunterricht fördern

Ella, Antonia und Louise kommen aufgebracht aus der großen Pause in die Klasse gestürmt. Ihre Worte überschlagen sich, während sie, sich gegenseitig ins Wort fallend, versuchen, den Grund ihrer Erregung zu erklären. Es dauert fast 10 Minuten, bis die Lehrkraft verstanden hat, was eigentlich passiert ist – Louise und Antonia haben zusammen «Pferd» gespielt, Ella kam dazu und plötzlich haben sich alle angeschrien und gegenseitig beleidigt, das Spiel auf einmal ganz vergessen. 

Sozial-emotionale Kompetenzen fördern mit Ben & Lee Schüler*innen geben sich High Five Bild: Getty images

An genau solchen Situationen setzt das Förderprogramm Ben & Lee für die 3. und 4. Klassen der Primarstufe an. Es unterstützt Lehrende wie Lernende dabei, komplexe sozial-emotionale Situationen strukturiert und kompetent zu analysieren und auf dieser Basis konstruktiv zu gestalten. Kürzlich ist die 2. Auflage des Trainingsprogramms beim Hogrefe-Verlag erschienen. Mareike Urban, die Autorin des Programms, beantwortet uns einige Fragen dazu.

Was genau sind eigentlich sozial-emotionale Kompetenzen?

Grob gesagt zeigt sich emotionale Kompetenz in der Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, auszudrücken und zu regulieren. Soziale Kompetenzen umfassen alle Fähigkeiten und Fertigkeiten, die dazu führen, die eigene Ziele zu verfolgen und dabei mit den Zielen anderer konstruktiv in Einklang zu bringen. In dieser groben Einordnung lassen sich noch viele Teilaspekte identifizieren (beispielsweise die Fähigkeit der Perspektivübernahme), die dazu beitragen, diese Kompetenzen auszubilden. Dies ist übrigens ein lebenslanger Prozess und nicht auf die eigene Schulzeit begrenzt.

Warum ist sozial-emotionales Lernen wichtig?

Soziale und emotionale Kompetenzen sind unabdingbare Schlüsselkompetenzen, um in der heutigen Welt zu bestehen. Sie sind die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und auch für akademischen sowie beruflichen Erfolg. Eine systematische Förderung dieser Kompetenzen im Sinne des sozial-emotionalen Lernens hilft, die Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen besser auszuschöpfen, was langfristig zu verbesserten akademischen Leistungen und einem höheren subjektivem Wohlbefinden führt. 

Lernen Kinder nicht ohnehin schon in ihrem alltäglichen Leben, wie sie sich sozial und emotional kompetent verhalten? Wieso sollten sozial-emotionale Kompetenzen zusätzlich systematisch während des Unterrichts gefördert werden?

Ja, natürlich erwerben Kinder auch implizit, in ihrem alltäglichen Leben, soziale und emotionale Kompetenzen. Das lässt sich für alle durch eine systematische Förderung jedoch noch verbessern. Kinder, die mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Auffälligkeiten aufwachsen, können durch präventive Maßnahmen gestärkt werden. Der eingangs beschriebene Konflikt zwischen Ella, Louise und Antonia beschreibt eine Situation, die täglich an allen Schulen vorkommt, Lehrkräfte und Kinder belastet und dem akademischen Lernen im Weg steht. Die drei Mädchen sind nach der Pause nicht in der Lage, sich auf den Unterrichtsstoff einzulassen und es wird viel Zeit investiert, um überhaupt zu verstehen, was genau passiert ist, geschweige denn alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die Fähigkeiten, die wir alle benötigen, um solche Situationen besser und schneller zu verstehen sowie konstruktiv aufzulösen, lassen sich trainieren. Wenn dies systematisch erfolgt, gelingt es deutlich effektiver und zielgerichteter als ohne eine gezielte Förderung. Stück für Stück wird weniger Stress bei allen Beteiligten ausgelöst und die akademische Lernzeit in der Schule kann umfänglicher ausgeschöpft werden. Die Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen bedeutet übrigens nicht, dass dann keine Konflikte mehr auftreten. Die Beteiligten sind jedoch besser in der Lage, diese gewaltfrei und sozial kompetent zu lösen. 

Im Rahmen des Förderprogramms Ben & Lee werden die hierfür notwendigen Teilbereiche bewusst gemacht und geübt. Was zeichnet dieses Trainingsprogramm aus und was war Ihnen bei der Entwicklung des Programms besonders wichtig?

Das Besondere an Ben & Lee ist, dass das Trainingsprogramm Aspekte des akademischen Lernens – beispielsweise das Schreiben von Geschichten im Fach Deutsch oder das Experimentieren mit Luft im Fach Sachunterricht – mit Aspekten des sozial-emotionalen Lernens verknüpft und sich beide Aspekte gegenseitig befruchten. Die meisten andere Trainingsprogramme fokussieren allein die sozial-emotionale Kompetenzausbildung. Mit Ben & Lee möchten wir Lehrkräften und Kindern deutlich machen, dass das sozial-emotionale Lernen immer Teil des akademischen Lernens ist und uns der eine Teil hilft, den anderen besser zu erfassen. Darüber hinaus war es uns sehr wichtig, ein Programm zu entwickeln, das den Anforderungen eines qualitativ hochwertigen Unterrichts entspricht und das sozial-emotionale Lernen nicht als weitere, zusätzliche Aufgabe dazukommt, die irgendwo untergebracht werden muss. Durch Ben & Lee kann das sozial-emotionale Lernen direkt im Unterricht erfolgen. Auch wenn sich Lehrkräfte zunächst in das Programm einarbeiten müssen, ist dieser Aufwand sehr gut investierte Arbeit. Die so erlangten sozial-emotionalen Kompetenzen der Lehrenden und Lernenden werden sich auch über das Programm hinaus entfalten können. Ben & Lee gibt dafür den Impuls.

Wie ist das Präventionsprogramm aufgebaut?

Ben & Lee ist ein Präventionsprogramm für den Einsatz in der Primarstufe (Klassen 3 und 4). Es kann mit der gesamten Klasse oder einem Teil der Klasse über einen Zeitraum von ca. 4-6 Monaten durchgeführt werden. In drei Bausteinen mit insgesamt 31 Stunden à 90 Minuten werden 1–2-mal wöchentlich emotionale und soziale Kompetenzen erarbeitet, welche im Sinne der dualen Unterrichtsplanung mit weiteren Fachanliegen des Deutsch- und Sachunterrichts verknüpft werden. Die einzelnen Stunden sind eingebettet in eine kindgerechte, motivierende Rahmenhandlung, in welcher die beiden Kinder Ben & Lee durch einen geheimnisvollen Kompass auf eine Zeitreise geraten, auf welcher sie sich zuerst bei unterschiedlichen Stammesnationen der Native Americans, dann bei Piraten und schließlich in der Zukunft wiederfinden. Auf ihren Reisen stoßen sie immer wieder auf Rätsel und Probleme der Gefühle und des Miteinanders, bei deren Lösung sie Rat und Tat der jeweiligen Projektklassen benötigen. 

Was ist bei Ben & Lee neu gegenüber der ersten Auflage?

Insgesamt ist das Programm durch die neue Auflage noch strukturierter und übersichtlicher geworden. Der Kerngedanke lässt sich dadurch sicherlich noch einmal besser verstehen. Darüber hinaus ist die Darbietungsform der Materialien an aktuelle Gegebenheiten angepasst worden – so steht beispielsweise das Arbeitsmaterial nun in einem webbasierten Download-Bereich zur Verfügung und die Geschichte der Figuren Ben & Lee liegt nun auch als Hörbuch vor. Inhaltlich wurde vor allem der erste Baustein überarbeitet und dabei die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Stammesnationen der Native Americans an aktuelle Erkenntnisse angepasst. Wir als Autor*innenteam sehen diesen Prozess übrigens nicht als abgeschlossen an, sondern als fortlaufende Entwicklung. In dem Maß, in dem unser aller Wissen wächst, sind wir in der Lage, das Programm zu optimieren. 

Was möchten Sie Lehrkräften mit auf den Weg geben?

Wir sind überzeugt, dass Sie im Leben der Ihnen anvertrauten Kinder einen großen Unterschied machen können. Ben & Lee soll Sie bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe bestmöglich unterstützen. Es geht nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern das, was Sie können und wissen, noch zielgerichteter und effektiver einzusetzen. Die Aufgabe erscheint angesichts Ihrer vielfältigen Verpflichtungen womöglich völlig erschlagend. Vielleicht machen Sie es wie Ben und Lee, die sich im dritten Baustein auf einen Weltraumflug vorbereiten und zunächst denken, sie könnten diese Aufgabe niemals bewältigen: Kleine Teilziele identifizieren, am besten zusammen im Team, und diese Schritt für Schritt verfolgen. Soziale und emotionale Kompetenzen sind einer der wichtigsten Schlüssel für eine zukunftsfähige Welt. Diese Tatsache anzuerkennen und diese Aufgabe anzugehen bedeutet, langfristig gesehen, die Welt zu verbessern. Wie auch im Vorwort der neuen Auflage überlassen wir die abschließenden Worte daher Ryunosuke Satoro: “Jeder Einzelne ist ein Tropfen, gemeinsam sind wir ein Meer”.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. Mareike Urban

Dr. Mareike Urban ist Sonderpädagogin und arbeitet als Sonderschullehrerin im Hochschuldienst am Arbeitsbereich für Erziehungshilfe und sozial-emotionale Entwicklungsförderung der Universität zu Köln. Hier lehrt sie insbesondere im Kontext von Didaktik, Prävention und der dualen Unterrichtsplanung. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Beratung von Lehrkräften und Studierenden im Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung bei Schüler:innen mit auffälligem Verhalten. Der Theorie-Praxis-Transfer und damit verbunden eine partizipative Forschungsausrichtung sind ihr ein besonderes Anliegen.

Empfehlung des Verlags

Ben & Lee Ben & Lee Förderprogramm sozial-emotionaler Kompetenzen in der 3. und 4. Klasse in Verbindung mit fachlichen Zielen des Deutsch- und Sachunterrichts von  Mareike Urban, Dennis Hövel, Thomas Hennemann
Durch das gesamte Training zieht sich eine kindgerechte Geschichte, in der die beiden Figuren Ben und Lee durch einen geheimnisvollen Kompass auf eine Zeitreise geraten. Zunächst gelangen sie zu den Native Americans, dann landen sie auf einem Piratenschiff und schließlich finden sie sich in der Zuku…

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