Schule und Entwicklung

Sprachentwicklungsdiagnostik

Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern werden je nach Klassifikationssystem (z.B. ICD-10, DSM-5) unterschiedlich definiert und zusammengefasst. Eine verbreitete Definition für Sprachentwicklungsstörungen findet man in der ICD-10 unter dem Punkt „umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (UESS)“. Dazu gehören in erster Linie Störungen

  • der Lautbildung (Artikulationsstörung F80.0),
  • der Sprachproduktion (Expressive Sprachentwicklungsstörung F80.1) und
  • des Sprachverständnisses (Rezeptive Sprachentwicklungsstörung F80.2).

UESS treten bei 5 bis 8 % aller Kinder auf, wobei Jungen deutlich häufiger betroffen sind als Mädchen. Die Sprachdefizite können in unterschiedlichen Bereichen, manchmal auch in mehreren gleichzeitig, auftreten. So kann es zu Schwierigkeiten bei der Lautbildung, zu Wortschatzdefiziten, Grammatikfehlern oder Kommunikationsproblemen kommen.

Sprachentwicklungsstörung oder Sprachentwicklungsverzögerung?

Bei Kindern unter 3 Jahren ist es oft nicht einfach, das Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung von einer normalen Entwicklungsschwankung abzugrenzen. Rückstände in der Sprachentwicklung holen Kinder in diesem Alter, und auch danach, oft noch auf. Die Diagnose einer „Sprachentwicklungsstörung“ wird daher erst ab einem Alter von 3 Jahren gestellt, bei jüngeren Kindern spricht man meist von einer „Sprachentwicklungsverzögerung“. Hinweise auf eine Sprachentwicklungsverzögerung können sein, wenn Kinder

  • mit 1 Jahr noch keine mehrsilibigen Laute bilden („dada“),
  • mit 2 Jahren nur wenige Wörter sprechen und keine Zwei-Wort-Sätze verwenden („Auto weg“) oder
  • mit 3 Jahren noch keine kurzen Sätze bilden oder nur schwer zu verstehen sind.

Eine „Sprachentwicklungsstörung“ bei Kindern im Vor- und Grundschulalter ist erkennbar an

  • falsch gebildeten Lauten,
  • fehlerhafter Satzbildung oder auch
  • Schwierigkeiten beim Erzählen.

Standardisierte Sprachdiagnostik

In der interdisziplinären S2k-Leitlinie der AWMF wird empfohlen, psychometrische Testverfahren einzusetzen und mehrere Sprachebenen (phonetisch-phonologisch, morphologisch-syntaktisch und semantisch-lexikalisch) sowohl im Sprachverständnis (rezeptiv) als auch in der Sprachproduktion (expressiv) zu überprüfen.
Bei Kindern unter drei Jahren werden meist Elternfragebögen (z.B. ELAN-R, ELFRA, FRAKIS) zur Untersuchung der Sprachentwicklung eingesetzt. Bei auffälligen Ergebnissen ist anschließend eine differenzierte Testung des Kindes empfehlenswert.
Allgemeine Sprachtests enthalten Aufgaben aus mehreren Bereichen sprachlicher Kompetenzen, z.B. Sprachverständnis und Sprachproduktion oder Wortschatz und Grammatik. Viele Verfahren überprüfen darüber hinaus weitere Bereiche, wie bspw. die auditive Gedächtnisfähigkeit, die eine wichtige Basiskompetenz beim Spracherwerb darstellt.
Die meisten Verfahren sind für das Kindergarten- und Grundschulalter ausgelegt (z.B. SET 5-10 und SET 3-5, P-ITPA, SETK 3-5, ETS 4-8). Der SETK-2 und die PDSS können bereits bei 2-Jährigen eingesetzt werden. Zum SETK 3-5 existiert außerdem mit dem SSV eine ökonomische Screeningvariante.
Spezifische Sprachtests  erlauben die differenzierte Untersuchung eines ausgewählten Bereichs, wie der Grammatik (z.B. TROG-D, TSVK), der Aussprache (z.B. PLAKSS-II) oder des Wortschatzes (z.B. GraWo, AWST-R, WWT 6-10). Meist ist es sinnvoll, zunächst mit einem allgemeinen Sprachtest die Fähigkeiten des Kindes auf verschiedenen Ebenen zu prüfen und erst im Anschluss spezifische Sprachtests einzusetzen.

Sekundäre Sprachstörungen

Können die Sprachdefizite auf eine Hörstörung, eine Intelligenzminderung (nonverbale Intelligenzdiagnostik z.B. mit SON-R 2,5-7 oder WNV), eine Fehlbildung der Sprechwerkzeuge oder eine andere Grunderkrankung bzw. einen Umweltfaktor zurückgeführt werden, so spricht man von einer „sekundären Sprachstörung“. Sekundäre Sprachstörungen können z.B. auch im Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrums-Störung, dem Down-Syndrom oder als Folge sozialer Vernachlässigung auftreten.

Psychosoziale Belastungen und Risiken

Da etwa die Hälfte der Kinder mit UESS zusätzlich psychische Auffälligkeiten (z.B. Aufmerksamkeitsprobleme, emotionale Probleme, Verhaltensauffälligkeiten) zeigt, ist es wichtig, auch diese abzuklären. Das Risiko für die Entwicklung einer Lese- und Rechtschreibstörung ist ebenfalls erhöht. Kinder mit Sprachauffälligkeiten werden außerdem häufiger als Gleichaltrige Opfer von Mobbing, und auch die Eltern der betroffenen Kinder berichten oft von zu wenig Akzeptanz und Unterstützung im sozialen Umfeld. Die Familien leiden daher unter einer erhöhten Stressbelastung.

Sprache als Grundlage für Beziehungsaufbau und Lernen

Wenn Kinder aufgrund einer Sprachstörung ihr Gegenüber nicht verstehen oder sich selbst nicht ausdrücken können, so kann dies zu vielen weiteren Schwierigkeiten führen. Die Kinder können z.B. weniger soziale Kompetenzen erwerben, sind in der Klassengemeinschaft nicht gut integriert oder der Lernstoff in der Schule überfordert sie. Eine frühzeitige Diagnostik und Förderung hilft den Kindern daher nicht nur, ihre sprachlichen Defizite zu bewältigen, sondern auch weitere Entwicklungsschritte und Lernanforderungen zu meistern. HM

Alle im Artikel erwähnten Testverfahren finden Sie auf www.testzentrale.de

Quellen

Petermann, F., Melzer, J. & Rißling, J.-K. (2016). Sprachdiagnostik im Kindesalter. Göttingen: Hogrefe.

Suchodoletz, W. v. (2013). Sprech- und Sprachstörungen. Göttingen: Hogrefe.

Suchodoletz, W. v. (2013). Ratgeber Sprech- und Sprachstörungen. Göttingen: Hogrefe.

Grimm, H. (2012). Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen – Ursachen – Diagnose – Intervention – Prävention (3., überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.