DeutschGesundheitswesenPflege und Health professionalsMedizin

Technik im Sozial- und Gesundheitswesen gemeinsam planen und entwickeln

Partizipation ist ein wichtiges Thema mit großer gesellschaftlicher Bedeutung. Entwicklungen im technischen Bereich sind ohne die Einbeziehung der Nutzer*innen oft nicht zukunftsfähig, auch und gerade im Kontext von Gesundheit. Prof. Dr. Sven Kernebeck und Dr. Florian Fischer haben mit „Partizipative Technikentwicklung im Sozial- und Gesundheitswesen“ ein Werk herausgegeben, das sowohl theoretisch als auch anwendungsbezogen orientiert ist und umfassend über die verschiedenen Ansätze informiert. Wir haben mit den beiden Herausgebern über das Buch, seine Entstehung und die größten Herausforderungen für die Entwicklung der Partizipation gesprochen.

Vor kurzem ist Ihr Buch „Partizipative Technikentwicklung im Sozial- und Gesundheitswesen“ erschienen. Was war Ihre Motivation für dieses Werk?

Sven Kernebeck:
Unsere Hauptmotivation war es, ein umfassendes Werk zu schaffen, das sich sowohl eine theoretische als auch eine anwendungsbezogene Perspektive auf das Thema der partizipativen Technikentwicklung im Gesundheits- und Sozialwesen einnimmt. Die Idee entstand aus unserer Beobachtung, dass Partizipation in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung im Kontext von Gesundheit und Technikentwicklung einnimmt. 

Florian Fischer:
Genau. Wir wollten ein Buch schaffen, das sowohl für Forschende als auch für Praktiker*innen als Orientierung dienen kann. Denn wir haben festgestellt, dass es zwar viele Erfahrungen und Ansätze in der partizipativen Technikentwicklung gibt, aber oft der Blick fürs Ganze fehlt. Umso wichtiger war es uns, die Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen einzubeziehen. Deshalb sind wir sehr froh, ausgewiesene Expert*innen für die Beiträge innerhalb des Buches gewonnen zu haben.

Könnten Sie kurz erklären, was genau unter partizipativer Technikentwicklung zu verstehen ist?

Sven Kernebeck:
Partizipative Technikentwicklung ist ein Ansatz, bei dem die zukünftigen Nutzer*innen aktiv in den Entwicklungsprozess von Technologien einbezogen werden. Es geht darum, dass nicht nur Expert*innen entscheiden, wie eine Technologie gestaltet sein soll, sondern dass die Menschen, die diese Technologie später auch nutzen werden, von Anfang an mitgestalten können. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es verschiedene Grade der Partizipation gibt: Diese reichen von einer einfachen Informierung der Beteiligten bis hin zu vollständiger Entscheidungsmacht.

Welche Bedeutung hat Partizipation in der Technikentwicklung heute, insbesondere im Sozial- und Gesundheitswesen?

Sven Kernebeck: 
Partizipation hat eine enorme Bedeutung. Sie wird als Instrument gesehen, um soziale, politische oder wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern. Im Kontext der Technikentwicklung bietet sie die Möglichkeit, die Bedürfnisse, Anforderungen und Perspektiven der zukünftigen Nutzenden frühzeitig und umfassend einzubeziehen.

Florian Fischer: 
Zudem fördert Partizipation die Demokratie und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Im Gesundheitsbereich ist sie eng mit Konzepten wie Empowerment und der Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit verbunden.

Warum ist partizipative Technikentwicklung besonders im Gesundheits- und Sozialwesen so wichtig?

Florian Fischer: 
Wir haben es hier vielfach mit einem sehr sensiblen Bereich zu tun, der das Leben und die Gesundheit von Menschen direkt beeinflusst. Wenn wir dort neue Technologien einführen, ist es besonders wichtig, dass diese den tatsächlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten der beteiligten Akteure entsprechen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Technologien auch wirklich akzeptiert und genutzt werden.

Sven Kernebeck: 
Zudem haben wir es in diesem Bereich oft mit sehr heterogenen Nutzendengruppen zu tun – von jungen, technikaffinen Menschen bis hin zu älteren Personen mit möglicherweise eingeschränkten Fähigkeiten. Durch partizipative Ansätze können wir sicherstellen, dass die entwickelten Technologien für alle zugänglich und nutzbar sind.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch von verschiedenen Methoden des Einbezugs. Können Sie uns einige Beispiele nennen?

Sven Kernebeck:
Es gibt eine Vielzahl von Methoden, die je nach Phase der Entwicklung und Charakteristika der Beteiligten eingesetzt werden können. Häufig verwendete Methoden sind zum Beispiel Fokusgruppendiskussionen und Workshop-Aktivitäten im Rahmen co-creativer Formate. Darüber hinaus ist auch das Prototyping mit Mock-Ups eine relevante Methode. Hierbei werden frühe Versionen oder Modelle der Technologie erstellt, welche die Nutzenden dann testen und kommentieren können. Dies erlaubt es uns, schon früh im Entwicklungsprozess wertvolles Feedback zu erhalten und Anpassungen vorzunehmen.

Das klingt nach einem komplexen Prozess. Wie kann man sicherstellen, dass die Partizipation wirklich effektiv ist und nicht nur oberflächlich stattfindet?

Florian Fischer:
Das ist durchaus eine große Herausforderung. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir uns von Anfang an Gedanken darüber machen müssen, wie hoch der Grad der Partizipation sein soll und kann. Dazu gehört auch, von Beginn an im Technikentwicklungsprozess eine klare Strategie für die Partizipation zu entwickeln und transparent zu kommunizieren, welche Entscheidungsspielräume die Teilnehmenden haben und wie ihre Beiträge in den Entwicklungsprozess einfließen.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen bei der partizipativen Technikentwicklung im Gesundheits- und Sozialwesen?

Sven Kernebeck:
Eine große Herausforderung ist sicherlich die Repräsentativität der in die partizipativen Formate einbezogenen Personen. Oft ist es schwierig, ein breites Spektrum an Teilnehmenden zu gewinnen, insbesondere wenn es um vulnerable oder schwer erreichbare Gruppen geht.

Florian Fischer: 
Darauf aufbauend ergibt sich die herausfordernde Frage, wie man Technologien gemeinsam mit Nutzenden entwickeln kann, die über eine sehr unterschiedliche Wissensbasis, Kompetenzen, Interessen und Haltungen verfügen. Dies wiederum führt zu Fragen nach der Machtverteilung und Entscheidungsfindung in Projekten. Wie können wir sicherstellen, dass alle Stimmen gehört werden und dass die sich draus ergebenden Erkenntnisse tatsächlich in die technische Entwicklung einfließen?

Was hoffen Sie, werden die Leser*innen aus Ihrem Buch mitnehmen?

Sven Kernebeck: 
Ich hoffe, dass die Leser ein tieferes Verständnis für die Komplexität und die Potenziale partizipativer Technikentwicklung im Sozial- und Gesundheitswesen entwickeln. Wir möchten zeigen, dass es sich lohnt, den Aufwand für partizipative Prozesse zu betreiben.

Florian Fischer: 
Dem schließe ich mich an. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass unser Buch als Orientierungshilfe für zukünftige partizipative Technikentwicklungsprojekte dienen kann. Wir wollen nicht nur informieren, sondern auch zum Handeln motivieren und praktische Hilfestellung geben.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Sven Kernebeck

Prof. Dr. Sven Kernebeckist Gesundheitswissenschaftler und seit 2023 Professor für Digitalisierung im Gesundheitswesen an der FH Münster. Hierbei liegt sein Forschungsschwerpunkt auf der partizipativen Entwicklung und Evaluation von digitalen Technologien im Gesundheitswesen sowie dem Einsatz von digitalen Technologien mit Bezug zu dem Thema Gesundheit. Er ist seit 2023 Sprecher der AG Digital Health des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung.

Dr. Florian Fischer

Dr. Florian Fischer ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bayerischen Zentrum Pflege Digital an der Hochschule Kempten tätig und vertritt dort den Bereich Public Health. Darüber hinaus ist er mit der Charité – Universitätsmedizin affiliiert. Mit seinen thematischen sowie methodischen Schwerpunkten in der Gesundheitskommunikation, Versorgungsforschung sowie Evidenzbasierung in Public Health beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang zwischen Humor und Gesundheit. Seine bisherigen Forschungsaktivitäten in diesem Bereich haben insbesondere den Wirksamkeitsnachweis von humorvollen Botschaftsstrategien über verschiedene Formate (Texte, Videosequenzen und Live-Bühnenshows des medizinischen Kabaretts) in der Prävention und Gesundheitsförderung fokussiert.

Empfehlung des Verlags

Partizipative Technikentwicklung im Sozial- und Gesundheitswesen

Interdisziplinäre Konzepte und Methoden

herausgegeben von Sven Kernebeck, Florian Fischer