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Teufelskreis der Angst: Was Angehörige und Betroffene tun können

Herr Rufer, was ist Angst?
Angst ist ein natürliches und äußerst wichtiges Gefühl, das bei jedem Menschen auftritt. Vor allem in Situationen, die als bedrohlich, unsicher und unkontrollierbar eingeschätzt werden. Häufig stellt Angst also eine wichtige Schutzreaktion dar, um in einer potenziell oder tatsächlich gefährlichen Situation vorsichtig zu sein und angemessen reagieren zu können. Menschen erleben Ängste allerdings unterschiedlich. Bei manchen äußern sie sich vor allem als länger andauernde ängstliche Stimmungen und Sorgen, bei anderen eher als plötzlich auftretende starke Angst- und Panikgefühle und bei wieder anderen stehen die mit Angst einhergehenden Körperempfindungen im Vordergrund, also zum Beispiel Herzrasen, Zittern oder Schwitzen.

Leiden und deutliche Einschränkungen: Wenn Angst pathologisch wird

Wo verläuft die Grenze zur psychischen Störung?
Wenn Ängste unangemessen stark und dauerhaft auftreten und mit dem Gefühl verbunden sind, keine Kontrolle über sie zu haben, ist das ein Hinweis auf eine Angststörung. Sie sind dann mit Leiden und deutlichen Einschränkungen der Lebensqualität verbunden. Häufig, aber nicht immer, werden dann auch bestimmte Situationen vermieden, wegen der Angst, dass dort Angst auftreten könnte. Eine „Angst vor der Angst“ also.

Wie weit verbreitet ist das?
Normale Angstgefühle gehören zum Leben dazu. Aber auch ausgeprägte Ängste, im Sinne einer Angststörung, sind häufig. 14 Prozent der Bevölkerung leiden unter einer Angststörung. Wobei diese in verschiedenen Formen auftritt. Wenn die Ängste an bestimmte Objekte oder Situationen gebunden sind, welche deswegen gemieden werden, spricht man von einer Phobie. Es gibt verschiedene Phobien, die spezifische Phobie, die soziale Phobie und die Agoraphobie. Wenn die Ängste nicht an bestimmte Objekte oder Situationen gebunden sind, kann es sich um eine Panikstörung oder eine generalisierte Angststörung handeln. Häufig treten aber auch Mischformen auf, beispielsweise eine Panikstörung mit Agoraphobie.

Der Teufelskreis der Angst

Um Angst besser verstehen zu können, gibt es das Modell des Teufelskreises der Angst. Im Wesentlichen geht esdarum, wie körperliche Symptome unsere Wahrnehmung und Gedanken sich gegenseitig verstärken und Angst auslösen können. Wie funktioniert das genau, können Sie uns das an einem Beispiel erklären?
Der Teufelskreis der Angst verdeutlicht, dass Angstreaktionen an jedem der verschiedenen Teile des Kreislaufes beginnen und sich dann bis zu intensiver Angst bzw. Panik steigern können. Zugleich verdeutlicht er, wie der „Ausstieg“ gelingen kann.

Der Teufelskreis der Angst

schematische Darstellung vom Teufelskreis der Angst
Teufelskreis der Angst

Hierzu ein konkretes Beispiel, welches mit Körpersymptomen beginnt: Abends im Bett bemerken Sie plötzlich, dass Ihr Herz schneller schlägt und dass Sie leicht schwitzen und zittern. Daraufhin „horchen Sie in sich hinein“, richten Ihre Aufmerksamkeit auf die Körpersymptome. Sie suchen gedanklich nach einer harmlosen Erklärung für die Symptome, finden aber keine, bewerten diese daher als möglicherweise gar nicht harmlos, vielleicht sogar als Zeichen für einen bevorstehenden Herzinfarkt und befürchten, dass sie Symptome stärker werden. Diese Vorstellungen lösen bei Ihnen verständlicherweise Angstgefühle aus.

Durch die Angst werden nun in ihrem Körper weitere Stressreaktionen ausgelöst und die körperlichen Symptome werden dadurch noch intensiver und neue kommen hinzu. Vielleicht wird Ihnen zusätzlich schwindelig und heiß. So setzt sich der Angstkreis fort, Ihre Gedanken fangen an zu rasen und Sie fürchten, die Kontrolle über sich zu verlieren. Sie beobachten Ihre Körperreaktionen voller Sorge, Ihr Herz schlägt schneller und Sie haben nun auch noch das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Die Zunahme der körperlichen Symptome bewerten Sie erst recht als gefährlich: Da diese nun wirklich stärker geworden sind, sehen Sie sich in ihrer Befürchtung einer drohenden Gefahr bestätigt. Der Angstkreislauf schaukelt sich also immer weiter auf.

Aus dem Teufelskreis aussteigen

Wie kann man aus dem Teufelskreis der Angst in diesem Fall aussteigen?
Ein „Ausstieg“ könnte an verschiedenen Stellen gelingen, beispielsweise schon ganz zu Beginn, durch eine andere Bewertung: Das Herzklopfen, Schwitzen und Zittern zeigt wahrscheinlich, dass ich heute viel Stress hatte und nun, da ich im Bett liege, die Stresssymptome erst richtig wahrnehme. Das ist nicht gefährlich, es ist normal, dass der Körper den Stress noch nicht abgebaut hat.

Corona-Pandemie: Prädestiniert für Angstgefühle

Sie schreiben in dem Ratgeber „Stärker als die Angst“ Oft lösen auch Gedanken den Angstkreis aus, z. B. durch etwas, das Sie in der Zeitung über Herzinfarkte lesen und als bedrohlich bewerten. Je schlechter Ihre seelische Verfassung zu diesem Zeitpunkt ist, umso höher ist das Risiko, dass dieser Teufelskreis aktiviert wird. Die derzeitige Situation scheint also prädestiniert für Angstgefühle. Was bedeutet das für Menschen mit seelischen Erkrankungen?
Ja, genau, der Einstieg in den Teufelskreis ist an verschiedenen Stellen möglich, auch in dem gedanklichen Teil. Durch einen Bericht ausgelöste Gedanken an den eigenen möglichen Herzinfarkt führt zu Angst, diese zu Körpersymptomen wie Herzklopfen, die Aufmerksamkeit richtet sich auf diese und sie werden als mögliches Zeichen eines Herzproblems bewertet, das macht Angst, usw. Wenn man auch noch aus anderen Gründen in einer schlechten psychischen Verfassung ist oder seine Lebenssituation als unsicher erlebt, ist man empfänglicher für solche Teufelskreisreaktionen. Das trifft ohne Frage auf die derzeitige Corona-Situation zu, die bedrohlich und verunsichernd ist. Daher ist es wichtig, sich nicht nur darauf zu fokussieren, sondern die Aufmerksamkeit auch immer wieder auf Aspekte zu richten, die einem Sicherheit geben und Wohlbefinden vermitteln.

Nicht jede Angstattacke ist behandlungsbedürftig

Nicht jede Angstattacke führt direkt in die psychiatrische Klinik. Was kann man tun, um sich selbst zu helfen?
Nicht jede Angstattacke ist Zeichen einer Angststörung und ganz sicher ist auch nicht jede Angstattacke behandlungsbedürftig. Wenn Ängste aber als zu häufig oder zu lange dauernd empfunden werden, den Alltag einschränken oder auf andere Art und Weise als belastend und störend erlebt werden, sollte man sich damit beschäftigen, was man dagegen tun kann.

Was kann man ganz konkret tun?
In Selbsthilfe ist einiges möglich. Zwei Fragen sind besonders hilfreich: (1.) Wofür steht die Angst, ist sie möglicherweise Ausdruck einer anderen, dauerhaften Belastung oder ungelösten Problematik?

Und (2.) Wie kann ich so mit der Angst umgehen, dass ich sie nicht noch unnötig verstärke oder aufrecht erhalte? Oder anders formuliert: Wie kann ich die Angst schwächen und mich selbst stärken, so dass ich stärker als die Angst bin?

In Bezug auf die erste Frage nach den möglichen Hintergrundproblemen, wird es darum gehen, sich diese bewusst zu machen und sie wenn möglich zu verändern oder zumindest eine Perspektive zu schaffen. Beispiele wären dauerhaft zu viel Stress am Arbeitsplatz, Selbstunsicherheit, familiäre Konflikte oder auch Mühe mit grundlegenden, existenziellen Themen wie dem Älterwerden oder Einsamkeit.

In Bezug auf die zweite Frage, den Umgang mit den Ängsten, lohnt es sich, sich konkrete Ziele zu setzen und sich zu informieren, wie Angstbewältigung gelingen kann. Dabei hilft es, sich mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Bewältigungsstrategien vertraut zu machen.

Angst ist wichtig und sinnvoll

Wie Erfolg versprechend sind solche Selbstmanagement-Strategien? Wird man damit seine Angst komplett loswerden oder geht es eher um das Erlernen eines angemessenen Umgangs mit der Angst?
Es kann nie das Ziel sein, Angst komplett loszuwerden. Denn Angst ist wichtig und sinnvoll. Von daher geht es immer um einen angemessenen Umgang mit Ängsten, der dazu führt, dass sie seltener und weniger stark auftreten. Für einen Teil der Betroffenen reichen Selbsthilfemaßnahmen aus. Häufig ist ein schrittweises Vorgehen empfehlenswert: Mittels systematisch angewandter Selbsthilfe versuchen, die Angst in den Griff zu bekommen. Falls dies nicht ausreicht, professionelle Unterstützung suchen.

Das eine schließt das andere natürlich nicht aus. Bei vielen meiner Patienten mit Angststörungen liegt der Schwerpunkt auf der Selbsthilfe, ich als Therapeut unterstütze diese, individualisiere das Vorgehen, gehe zum Teil mit in die Übungen gegen die Angst, motiviere bei Rückschlägen, vermittle Sicherheit, helfe dabei Hintergrundprobleme zu erkennen und in Angriff zu nehmen.

Angehörige: Die Person und nicht die Angst unterstützen

Was können Menschen im Umfeld von Betroffenen tun, um es ihnen zu erleichtern?
Angehörige können den Betroffenen emotionalen Halt geben und ihnen bei Dingen, die nichts mit der Angst zu tun haben, unterstützen. Hilfreich ist z. B. das Angebot gemeinsamer angenehmer Aktivitäten. Sie können Unterstützung bei den Zielen der Betroffenen in Bezug auf die Angstbewältigung anbieten, indem sie motivierend über diese sprechen. Es gibt auch etwas, was Angehörige nicht tun sollten: Sie sollten dem von einer Angststörung Betroffenen nicht zu viel von dem abnehmen, was er aus Angst nicht tut. So ist es beispielsweise ungünstig, wenn Angehörige den Betroffenen in Situationen, vor denen er Angst hat, immer begleiten. Denn so nehmen Sie ihm die Chance zu erfahren, dass er diese Situationen auch alleine bewältigen kann.

Den Medienkonsum regulieren

Im Rahmen der Corona-Pandemie wird ja regelmäßig empfohlen, dass man beispielsweise den Medienkonsum reguliert – nur noch zweimal am Tag ins Handy schauen und nicht den ganzen Tag über den Newsticker verfolgen. Gibt es noch andere Strategien, die helfen, Angst vorzubeugen?
Generell wichtig ist es, dass das Thema der Corona-Pandemie nicht zu stark zum Lebensmittelpunkt gemacht wird. Dass sich also nicht alle Gespräche darum drehen, nicht dauernd Radiosendungen im Hintergrund zu diesem Thema laufen und man sich nicht dauernd Gedanken darüber macht, was für Folgen diese haben wird.

Dem kann man zum einen gezielt entgegenwirken, indem man andere Gesprächsthemen wählt, sich auch zu anderen Themen informiert und mal wieder eine CD statt Radio hört. Zum anderen kann man ausgleichende und stressreduzierende Aktivitäten durchführen, z.B. Entspannungsverfahren lernen und regelmäßig anwenden, alte Freunde oder Verwandte nach langer Zeit mal wieder anrufen oder ganz allgemein endlich etwas tun, was man schon lange machen wollte, aber nie dazu gekommen ist.

Gibt es etwas, dass wir aus der derzeitigen Situation ganz allgemein lernen können?
Aus meiner Sicht ist die aktuelle Unruhe und Unsicherheit rund um das Coronavirus ein sehr anschauliches Beispiel über die positiven wie negativen Seiten der Angst. Angst ist wichtig und sinnvoll, indem sie uns dazu bringt, die empfohlenen Schutzmaßnahmen einzuhalten und uns und andere nicht dadurch zu gefährden, dass wir das Risiko einer Erkrankung auf die leichte Schulter nehmen. Zugleich ist eine zu starke Angst oder gar Panik weder gerechtfertigt noch hilfreich. Es ist sinnvoll, dem Teufelskreis der Angst entgegen zu wirken, indem man sich bemüht, die Risiken sachlich einzuschätzen und entsprechend angemessen zu reagieren. Dazu gehört auch, momentan noch bestehende Unsicherheiten zu akzeptieren und zuzulassen, statt sie durch Beschönigungen („mir wird sicher nichts passieren“) oder Übertreibungen („ich werde mich bestimmt infizieren und sterben“) wegzudrängen.

Herr Rufer, vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. med. Michael Rufer

Michael Rufer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, arbeitet als stellvertretender Klinikdirektor und Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit über fünfzehn Jahren beschäftigt er sich klinisch und wissenschaftlich mit Angst- und Zwangserkrankungen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Buchkapitel und Fachartikel.

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