DeutschPflege und Health professionals

Trainieren Sie noch oder gammeln Sie schon?

Von Stephan Kostrzewa

Der „Demenzmarkt“ (Gronemeyer 2013) ist mittlerweile immer unübersichtlicher geworden. Neben der Vielzahl an „Hurra-Meldungen“ in der Medikamentenforschung im Bereich der Demenzen, gibt es aber auch ein großes Sammelsurium an nicht-medikamentösen Therapieansätzen, die den Verlauf der Erkrankung verlangsamen sollen. Nach der Devise: „Bitter für den Mund – für den Körper gesund!“ werden die Betroffenen nur selten gefragt, ob sie diesen zunehmenden Wildwuchs benötigen und ob es ihnen gefällt, was da mit ihnen veranstaltet wird. Da es zu den meisten dieser Ansätze keine Begleitforschung gibt, kann auch auf keine Evidenz verwiesen werden. Nichtsdestotrotz werden diese Methoden angewendet.

Das Gerontopsychiatrische Disneyland

Daneben gibt es aber auch noch ein drittes Genre, dass in der Praxis zu beobachten ist: Das „Gerontopsychiatrische Disneyland“. Angefangen vom Snoezelen, die Bunte Runde mit Bewegungseinheiten („Turne bis zur Urne“); das Baby-Watching („Geronto-Peep-Show“); die Tovertafel oder das Tanzen mit Demenzbetroffenen sollen den Erkrankten ablenken und bespaßen.

Scheinwelten für die dünne Personaldecke

Für eine angemessene Demenz-Care fehlen aber die Mitarbeiter und es kommen dann zunehmend technische oder manifeste Scheinwelten zum Einsatz, die hingegen nur wenig personalaufwändig sind, z.B.: Bushaltestellen, an denen nie ein Bus hält und an denen der Betroffene vergeblich wartet; Plüschtier-Roboter, die die Aufmerksamkeit des Betroffenen binden sollen. Und in naher Zukunft Pflegeroboter, die Empathie simulieren und Befindlichkeiten mithilfe von KI vom Gesicht des Betroffene ablesen können, quasi „die Industrialisierung des Mitleids“ (Eisenberg 2017: 137).

Die Vielzahl an „Angeboten“ soll zudem noch in Gruppen von ebenfalls Betroffenen durchgeführt werden, denn auch hier schlägt die „Schwarze Pädagogik“ gnadenlos zu, wenn sie behauptet: „Die in Gesellschaft verbrachte Zeit, ist therapeutisch sinnvolle Zeit“.

Der Markt bedient die Not

Die Not im Feld der Demenz ist groß. Hiermit meine ich nicht nur die Not der Erkrankten, nein auch Angehörige und Mitarbeiter haben ihre liebe Not. Zerfällt zunehmend die Sprache der Menschen mit Demenz, so muss ihre emotionale Lage intuitiv und mithilfe von „Verstehenshypothesen“ (DNQP 2018) erfasst werden. Das ist ein interpretativer Prozess mit vielen unsicheren Variablen.

In dieser Not hilft nun der Markt mit einer Unmenge an „Demenz-Produkten“. Hierbei sollen dem Erkrankten dann völlig überteuerte Plüschtiere, Püppchen, bunte Bälle, Tastsäckchen, Holzwürfel mit Schließmechanismen und ähnlicher Plunder angeboten werden. Diese Produkte werden mit einem illusorischen Versprechen verbunden, der Betroffene hätte hiervon einen Benefit (z.B. Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit oder Verlangsamung der Demenzentwickelung).

Zuhause bedeutet Sicherheit

„Ich möchte nach Hause“ oder: „Zeigen Sie mir bitte den Ausgang“ – so oder so ähnlich reagieren Menschen mit Demenz, wenn sie sich nicht wohlfühlen. Auch Angst wird durch eine starke Unruhe ausgedrückt. Nicht selten suchen dann die Betroffenen wirklich den Ausgang, um sich auf den Weg zu machen. Hierbei muss es sich dann nicht unbedingt um ein reales Zuhause handeln, denn Zuhause ist eine Chiffre, die für Sicherheit, Vertrautheit und Geborgenheit steht.

Es geht auch anders: Therapeutisches Gammeln

Gemäß dem etymologischen Wörterbuch finden sich verschiedene Erläuterungen zum Begriff Gammeln. Dort steht, dass Gammeln vom althochdeutschen gaman abstammt und so viel wie „Lust“ bedeutet. Auch im Urgermanischen finden wir das Wort gamaną. Hier wäre die Ableitung: Spaß, Fröhlichkeit oder Genuss. Das Attribut „Therapeutisch“ soll in Kombination mit dem Begriff des „Gammelns“ einen Widerspruch darstellen, der Aufmerksamkeit generiert und zum Innehalten gemahnt.

Vom Ansatz her stammt die im „Therapeutischen Gammeln“ (Kostrzewa 2023) angewendete Haltung aus der Palliative Care. Hier werden nämlich die Wünsche und Bedürfnisse des Betroffenen radikal in den Mittelpunkt der Sorgekultur gestellt. Und genau diese Haltung bewährt sich auch im Bereich der Demenz. Das Therapeutische Gammeln versteht sich somit als Gegenentwurf zu den vielen vermeintlichen Trainings und Therapien in der Demenz Care. Sie besteht aus einer gewährenden, suchenden und reagierenden Haltung. Hierüber erfahren die Betroffenen, dass sie die Regie (Autonomie) über das Pflege- und Versorgungsangebot zurückbekommen.

Deutschlands 1. Gammel-Oase entsteht

Seit Mai 2023 entsteht in Marl (Nordrhein-Westfale, Deutschland) im Julie-Kolb-Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt eine erste „Gammel-Oase“. In einem segregierten Bereich für 14 Bewohner*innen mit Demenz wird hier ein Schutzraum für diese besonders vulnerablen Personen geschaffen. Das „Therapeutische Gammeln“ ist somit ein 24-Stunden-Konzept für Menschen mit fortgeschrittener Demenz. Dieser Bereich zeichnet sich durch die hier im Weiteren aufgeführten Einzelaspekte aus.

Rahmenbedingungen für das Therapeutische Gammeln im Julie-Kolb-Seniorenzentrum

  1. Der Betroffene ist der Experte seiner Demenz
    Die Mitarbeiter*innen begleiten den Menschen mit Demenz. Dieser ist der Experte für seine Demenz. Hieraus entsteht eine Pflegebeziehung auf Augenhöhe, die den Betroffenen nicht bevormundet, ihn erwachsenengerecht behandelt und keine pädagogisch-erzieherischen Ansprüche an ihn richtet.
    In diesem Verhältnis begreift sich Pflege und Betreuung als Aushandlungsprozess zwischen dem Hilfegeber und dem Hilfeempfänger. In letzter Konsequenz bedeutet das auch für den Betroffenen, dass sein Recht auf Verwahrlosung (ohne medizinische Komplikationen) geschützt bleiben soll.
     
  2. Zielgröße ist das Wohlbefinden der Betroffenen
    Das Wohlbefinden der Betroffenen ist die zentrale Zielgröße aller Handlungen und Angebote! Dieses wird situationsbezogen erfasst und entsprechend als Orientierungsgröße herangezogen. Kleine über den Tag verteilte Fallbesprechungen helfen dabei entsprechende Verstehenshypothesen zu entwickeln. Hierüber wird versucht sich das oftmals unverständliche Verhalten der Betroffenen interpretativ zu erschließen.
     
  3. Rückzug ist nicht immer pathologisch
    Oftmals kann bei zu Pflegenden mit Demenz beobachtet werden, dass diese sich gern „verkriechen“. Im Pflegeheim ist der Rückzugsort etwa das Bewohnerzimmer und zu Hause die sogenannte „Lieblingsecke“. In diesem Verhalten soll erst einmal der Wunsch nach Schutz und Sicherheit in einer fragilen Welt gesehen werden. Daran ist nichts pathologisch, sondern dies ist völlig normal.
     
  4. Mitarbeiter müssen geschult und begleitet werden
    Dem zu Pflegenden mit Demenz die Regie zu überlassen, bedeutet für Mitarbeiter*innen (der Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft) eine gewährende Haltung einzunehmen. Diese muss erst einmal erlernt werden, denn in vielen Einrichtungen sind die Mitarbeiter die „Macher“. Menschen mit Demenz fühlen sich hierbei dann oftmals ausgeliefert und überfahren. Entsprechende Schulungen und Praxisbegleitung erhalten die Mitarbeiter der „Gammel-Oase“ im Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl seit März 2023.
     
  5. Segregation schützt den Betroffenen
    Gerade in gemischten Einrichtungen (Integratives Modell) lässt sich beobachten, dass orientierte Mitbewohner sich von den Demenz-Betroffenen, mitunter sehr kategorisch, distanzieren, mitunter durch kränkende Äußerungen.
    Hier kann das segregierte Modell, wie die „Gammel-Oase“ ein sinnvoller Ansatz sein. Bei diesem Konzept geht es nicht darum, Menschen mit Demenz auszuschließen, sondern ihnen einen Schutzraum anzubieten. Die Praxiserfahrung zeigt, dass Demenz-Betroffene recht gut miteinander klarkommen, wenn denn das Demenzstadium ungefähr ähnlich ist.
     
  6. Angehörige müssen eng begleitet werden
    In der Palliative Care hat sich in den letzten Jahren vermehrt durchgesetzt, den Angehörigen als „Patienten 2. Ordnung“ zu sehen. Das meint, dass Angehörige ebenfalls einen Betreuungs- und Unterstützungsbedarf haben. Diese Haltung pflegen auch die Mitarbeiter*innen des Julie-Kolb-Seniorenzentrums den Angehörigen der Bewohner mit Demenz gegenüber. Angehörigenarbeit ist somit eine der tragenden Säulen dieses Konzepts.
     
  7. Einzug und Umzug müssen gut vorbereitet werden
    Die Zielgruppe der Gammel-Oase sind Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz. Diese sollte vor Einzug in die Einrichtung ärztlich (möglichst fachärztlich) diagnostiziert sein. Durch intensive psychosoziale Betreuung werden jegliche Formen an fixierenden Maßnahmen gänzlich vermieden.
    Das Umziehen ist im Julie-Kolb-Seniorenzentrum kein Tabu. Grundsätzlich soll ein sanftes Umziehen ermöglicht werden. Das kann bedeuten, dass zukünftige Bewohner probeweise für einige Stunden am Tag die Gammel-Oase besuchen sollten. Der eigentliche Umzug wird mithilfe eines Umzugs- und Überleitungsbogen begleitet und geregelt.
     
  8. Mehrbettzimmer ist kein Teufelszeug
    Vor einigen Jahren ist in stationären Einrichtungen in Deutschland damit begonnen worden, 2-Bettzimmer in Einzelzimmer umzuwandeln. Dieses veränderte Angebot bedient den Wunsch der Angehörigen - Menschen mit fortgeschrittener Demenz profitieren hingegen eher von Mehrbettzimmern. Aus diesem Grund bietet die Gammel-Oase des Julie-Kolb-Seniorenzentrums in Marl aus ausschließlich 2-Bettzimmer für die hier wohnenden Senioren mit fortgeschrittener Demenz an. Im Bedarfsfall (Krisensituationen) werden in der Einrichtung aber auch Kriseninterventionszimmer vorgehalten, die auch den Bewohner der Gammel-Oase zur Verfügung stehen.
     
  9. Kein Aktivierungsterror
    In der Gammel-Oase gibt es keine Gruppenangebot und keinen „Aktivierungs-Terror“. Das Miteinander-Leben, begleitet durch Alltagsaktivitäten und Utensilien mit Aufforderungscharakter (z.B. Kramkisten, Zeitschriften, Prospekte oder Kataloge) verleiten die Bewohner*innen erst einmal zum Beobachten (aktive Passivität). Fühlt sich nun einer der Betroffenen intrinsisch motiviert zu einem Handeln, so wird dieses unterstützt – hingegen nicht pädagogisch initiiert.
     
  10. Auch Menschen mit Demenz trauern
    Die Mitarbeiter*innen der Gammel-Oase sind geschult im Themenfeld „Trauerarbeit für Menschen mit Demenz“. Trauerreaktionen werden hier nicht „weg-geschunkelt“, sondern durch mitmenschliche Solidarität beantwortet und begleitet. Das wiederum schafft Nähe und Verständnis für manch „herausforderndes Verhalten“.

Lesetipp: Kostrzewa, S. (2023). Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz, GRIN Verlag, München.

Hörtipp: Podcast „Der Palli-Ticker“, Folge 14: Therapeutisches Gammeln.
www.podcast.de/episode/504745580/14-podcast-therapeutisches-gammeln

 

Literatur:

DNQP (2018). Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“, Osnabrück.

Eisenberg, G. (2017). Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst, Verlag Wolfgang Polkowski, Gießen.

Gronemeyer, R. (2013). Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit, Pattloch, München.

Kostrzewa, S. (2023). Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz, GRIN Verlag, München.

Dr. Stephan Kostrzewa

Dr. rer. medic. Stephan Kostrzewa, Institut für palliative und gerontopsychiatrische Interventionen in Mülheim an der Ruhr. Dipl. Sozialwissenschaftler, exam. Altenpfleger, Fachbuchautor, Chefredakteur „Palliativpflege heute“ (PPM Verlag), Podcaster „Der Palli-Ticker“.
www.stephankostrzewa.com