„Gelegenheit macht Diebe“, so lautet eine beliebte alltagspsychologische Annahme. Und beobachtet man Medienberichte über das Verhalten von Menschen in Politik und Wirtschaft oder sogar in anderen Bereichen, wie Sport, Kunst und Kultur, so sind Vergehen wie Betrug, Diebstahl und Korruption sehr präsent. Es ist inzwischen empirisch belegbar, dass solche Verbrechen nicht abnehmen, sondern sich lediglich immer mehr in das Internet verlagern. Aber ist es wirklich nur die Gelegenheit, die Diebe macht, oder gibt es individuelle Personen- bzw. Persönlichkeitsmerkmale, die unaufrichtiges, unehrliches, kriminelles oder korruptes Verhalten wahrscheinlicher machen?
In Hinblick auf situative Faktoren hat ein Unternehmen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, die dazu beitragen, dass Mitarbeitende produktiv arbeiten und im Unternehmensinteresse handeln, beispielsweise über eine Unternehmenskultur, die Wert auf faire Entlohnung, ansprechende Arbeitsbedingungen oder ausreichend Handlungsspielraum der Mitarbeitenden legt. Doch es sind keineswegs situative Faktoren allein, die darüber entscheiden, inwiefern sich Mitarbeitende zum Wohle des Unternehmens (und deren Mitglieder) verhalten. Personenfaktoren – also interindividuelle Unterschiede der Mitarbeitenden, beispielsweise in Hinblick auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale – sind nicht zu vernachlässigen. Verkürzt ausgedrückt: Sind vielleicht manche Menschen anfälliger dafür, Regeln zu brechen und unternehmensschädigende Verhaltensweisen an den Tag zu legen als andere? Und wie kann man das feststellen bzw. lässt es sich möglicherweise durch psychologische Diagnostik vorhersagen?
An diesem Punkt kommt das Merkmal Integrität ins Spiel: Integrität wird als stabiles Persönlichkeitsmerkmal angesehen, das für die Arbeitswelt von großer Bedeutung ist. Dem Duden (2019) zufolge versteht man unter „Integrität“ Makellosigkeit, Unbescholtenheit oder Unbestechlichkeit. Integre Personen bleiben sich selbst treu; sie halten sich an ihre eigenen Prinzipien und Werte, die – selbstredend – moralisch vertretbar sind. In der Arbeitswelt verhalten sich integre Personen meist ehrlich, loyal und vertrauenswürdig. Sie neigen kaum dazu, kontraproduktives Verhalten am Arbeitsplatz („counterproductive work behavior“) zu zeigen; worunter zum einen schwere Verfehlungen (und teilweise sogar illegale Verhaltensweisen) wie Diebstahl, Mobbing oder unerlaubtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz fallen, zum anderen auch weniger gravierende – für das Unternehmen aber dennoch hochproblematische – Verhaltensweisen wie ein verringerter Arbeitseinsatz. Kontraproduktive Verhaltensweisen können sich dabei gegen die Organisation selbst oder gegen andere Mitarbeitende richten.
Studien haben gezeigt, dass (mangelnde) Integrität nicht nur bedeutend für die Vorhersage unternehmensschädigender Verhaltensweisen ist, sondern auch in der Vorhersage allgemeiner beruflicher Leistung. So zählen nach einer vielzitierten Metaanalyse von Schmidt und Hunter (1998) Integritätstests zu den vorhersagekräftigsten diagnostischen Verfahren im Rahmen der Personalauswahl: Nach kognitiven Tests und Arbeitsproben sind sie der drittbedeutendste Prädiktor in der Vorhersage beruflichen Erfolgs (erhoben durch Vorgesetztenbeurteilungen).