Laut Schätzungen der WHO begehen mehr als 700.000 Menschen jährlich Suizid. Um auf diese Tatsache aufmerksam zu machen, wurde der 10. September zum Welttag der Suizidprävention erklärt. Unsere Autorin Andrea Walraven-Thissen ist seit vielen Jahren in der Krisenintervention und in der Suizid-Postvention tätig. Im Interview erklärt sie, warum Postvention auch Prävention ist und wie wichtig es ist, dieses mit Mythen und Tabus belegte Thema offen anzusprechen.
Warum fällt es uns so schwer, über Suizid zu sprechen?
Suizid ist ein ungreifbares Thema; es ist überall und nirgendwo und trifft alle Ebenen unserer Gesellschaft. Wenn man das Thema vermeidet, kommt es einem nicht nah und es kann einem auch nicht unangenehm werden. Im Buch habe ich einige Mythen entkräftet; viele Menschen glauben, man erhöht das Suizidrisiko, wenn man darüber spricht. Das stimmt nicht, wir müssen über Suizid sprechen. Und das ist nicht einfach! In meinem Buch können Sie lesen, wie Stigma und Tabu entstanden sind und dass sie leider noch immer aktuell sind. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wir forschen immer mehr und bekommen so wertvolle Einsichten, die für eine bessere Präventionsstrategie notwendig sind. Wenn ich mich aber an Politiker*innen wende, um meine Hilfe anzubieten, damit diese Einsichten umgesetzt werden können, wird nicht darauf reagiert. Stattdessen werde ich eingeladen, wenn es um das Thema Terrorismus geht, ich bin sogar als Beraterin der EU-Kommission zu diesem Thema benannt. Aber wie viele Menschen sterben täglich durch Terrorismus? Und wie viele Menschen sterben täglich durch Suizid? Ich durfte die EU-Kommission noch nie zum Thema Suizid beraten. Obwohl Suizid jeden Tag tötet; während Sie jetzt diesen Text lesen, sterben weltweit Menschen, alle 40 Sekunden verlieren wir jemanden durch Suizid. Politiker*innen vermeiden dieses Thema lieber, auch ihnen kommt es nah, auch ihnen ist es unangenehm. Das verstehe ich. Ich akzeptiere es aber nicht, wenn wir die Forschungsergebnisse nicht umsetzen, die uns den Weg zeigen, um die Situation für Betroffene und Hinterbliebene zu verbessern.