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Wenn Arbeit süchtig macht

Suchtartiges Arbeiten galt zunächst als „Managerkrankheit“, daher wurden in früheren Studien auch tatsächlich vor allem Manager untersucht. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass suchtartiges Arbeiten jede*n treffen kann, unabhängig von Geschlecht, Alter und Berufsstatus. Weil Arbeit in der modernen Leistungsgesellschaft einen hohen Stellenwert hat, unterscheidet sich Arbeitssucht von allen substanzgebundenen wie auch von vielen Verhaltenssüchten – sie ist nicht sozial geächtet, sondern bringt oft sogar Anerkennung.

Einheitliche Diagnosekriterien fehlen

Heute ist sich die Forschung größtenteils einig, dass arbeitssüchtiges Verhalten negative Auswirklungen auf das Individuum, sein soziales Umfeld und auch für das Unternehmen hat. Für die Erforschung des suchtartigen Arbeitens ist es problematisch, dass es an einheitlichen Diagnosekriterien mangelt. In der Forschung wird u.a. diskutiert, ob exzessives Arbeiten als Suchterkrankung bezeichnet werden kann. Die Definition als Verhaltenssucht ist methodisch allerdings bisher die einzige Definition, die auf einer diagnostischen und ausführlichen theoriebasierten Grundlage beruht.
In einer Studie von Maximilian Pannier und Mira Fauth-Bühler vom Institut für Wirtschaftspsychologie der FOM Hochschule Stuttgart wurde versucht herauszufinden, welche Rolle berufliche Rahmenbedingungen (Entgrenzung der Arbeit) und Persönlichkeitsfaktoren (Big Five) bei suchtartigem Arbeiten spielen.

Neurotizismus und suchtartiges Arbeiten

Sowohl substanzgebundene als auch -ungebundene Süchte werden mit Veränderungen in der Persönlichkeit in Verbindung gebracht. Es zeigte sich, dass Neurotizismus der Persönlichkeitsfaktor ist, der am häufigsten mit einer Suchtproblematik einhergeht. Personen mit hohen Werten im Faktor Neurotizismus neigen vermehrt zu Selbstzweifeln. Ein Zusammenhang zwischen Neurotizismus und suchtartigem Arbeiten könnte dadurch erklärt werden, dass diese Personen versuchen, durch übermäßige Arbeitsanstrengung das schlechte Selbstwertgefühl auszugleichen. Es wurde für die Studie die Hypothese aufgestellt: „Der Persönlichkeitsfaktor Neurotizismus steht in positivem Zusammenhang mit suchtartigem Arbeiten.“

Entgrenzung der Arbeit

Unter der Entgrenzung wird die zunehmende Dynamisierung der bestehenden Strukturen der Arbeit bezeichnet. Da Beschäftigte durch diese Entgrenzung zunehmend an ihrem Output gemessen werden, wird angenommen, dass sich die Beschäftigungsdauer außerhalb der regulären Arbeitszeit erhöht. Dies führt dazu, dass sich Betroffene schwerer von der Arbeit lösen können, die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen, eine Erholung findet nicht mehr oder nur noch unzureichend statt. Auch suchtartiges Arbeiten ist durch eine fehlende gedankliche Distanzierung von der Arbeit charakterisiert, in der Studie wurde die Hypothese aufgestellt: „Eine zunehmend entgrenzte Arbeit steht in positivem Zusammenhang mit suchtartigem Arbeiten.“

Kombination aus Rahmenbedingungen und Persönlichkeit

Bisher gibt es keine Untersuchungen, die eine Kombination aus Rahmenbedingungen und Persönlichkeit in den Fokus zur Erklärung von suchtartigem Arbeiten stellen. Studien untersuchten meist nur eines der beiden Konstrukte in Verbindung mit Arbeitssucht. Worin sich Personen unterscheiden, für die bestimmte Rahmenbedingungen gut oder schlecht sind, wurde nicht untersucht. Da Studien ergeben haben, dass ängstliche Menschen schneller gestresst sind und diesen Stresslevel auch länger halten, arbeiten sie mehr, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen, da sie stärker befürchten, diese zu verfehlen. Darum lautet die Hypothese 3: „Der Zusammenhang zwischen dem Persönlichkeitsfaktor Neurotizismus und suchtartigem Arbeiten wird vom Ausmaß der Entgrenzung der Arbeit beeinflusst.“

Ergebnisse der Studie

Die Ergebnisse zeigten, dass in der untersuchten Stichprobe ein signifikanter Zusammenhang zwischen Neurotizismus und suchtartigem Arbeiten besteht. Das steht im Einklang mit bisherigen Untersuchungen, welche suchtartiges Arbeiten nahe an den klassischen Süchten definieren und diese im Zusammenhang mit Persönlichkeitsfaktoren untersuchen. Weitere Studien berichten nicht nur von einem Zusammenhang zwischen Neurotizismus und suchtartigem Arbeiten, sondern auch mit Sucht allgemein. Im Sinne der Fluchthypothese könnten die gefundenen Zusammenhänge zwischen suchtartigen Verhaltensweisen und dem Persönlichkeitsfaktor Neurotizismus darauf hindeuten, dass sich Menschen übermäßig auf diese Verhaltensweisen einlassen, um unangenehmen Situationen auszuweichen oder eine Konfrontation mit sich selbst oder dem Umfeld zu vermeiden.

Zudem konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen Entgrenzung der Arbeit und suchtartigem Arbeiten gezeigt werden, hier müssen aber weitere Studien folgen. Unklar ist etwa, ob sich Betroffene zunehmend entgrenzte Arbeit suchen oder die entgrenzte Arbeit suchtartiges Arbeiten hervorbringt. Interessant ist hierbei, dass eine zunehmend entgrenzte Arbeit in Zusammenhang mit einer Ausdehnung der Arbeitszeit steht.

Für die 3. Hypothese wurde getestet, ob der Zusammenhang mit dem Faktor Neurotizismus und suchtartigem Arbeiten vom Ausmaß der Entgrenzung beeinflusst wird, hierfür konnten aber zunächst keine signifikanten Interaktionseffekte gefunden werden.

Jüngere Erwerbstätige (18 bis 45 Jahre) scheinen häufiger suchtartig zu arbeiten als Ältere (46 bis 58 Jahre). Diese Erkenntnis spricht ebenfalls dafür, dass suchtartiges Arbeiten auch durch gesellschaftlichen Wandel vermehrt auftritt und überwiegend jüngere Erwerbstätige von diesem Phänomen betroffen sind. Daher ist es umso wichtiger, einheitliche Kriterien zur Diagnose von suchtartigem Arbeiten bereitzustellen und die klinische Relevanz des Themas stärker in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken.
 

Schlussfolgerungen für die Praxis

  • Führungskräfte und Mitarbeitende sollten für das Thema suchtartiges Arbeiten sensibilisiert werden.
  • Schulungen zum Thema „Suchtartiges Arbeiten“ können helfen, der Entwicklung einer Arbeitssucht vorzubeugen und Betroffenen schneller Hilfe zukommen zu lassen. Mögliche Themen: gesunder Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit, Zeitmanagementlösungen zur Verhinderung der Ausdehnung von Arbeitszeit, Angebote zur Steigerung der geistigen und körperlichen Fitness.
  • Persönlichkeitstests bei Einstellung von neuem Personal können unterstützend von Nutzen sein, um vulnerable Personen zu identifizieren und präventiv agieren zu können.
  • Bei entgrenzter Arbeit sollte zunehmend auf Anzeichen von suchtartigem Arbeiten geachtet werden und Unternehmen sollten eine reine Ausweitung der Arbeitszeit nicht belohnen.


Quelle:
Suchtartiges Arbeiten: Persönlichkeitsfaktoren und berufliche Rahmenbedingungen
Maximilian Pannier and Mira Fauth-Bühler
SUCHT 2021 67:3, 121-130