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DeutschWissen und Gesellschaft

Wenn Moral und Politik sich kreuzen – Warum auch unser Blickwinkel zählt

Von Dr. Lucas Köhler.

Zwei Menschen gehen Weg gemeinsam, dann trennen sich die Wege. Politik und Moral überkreuzen sich. Foto: Getty images

Was ist richtig, was ist falsch?

Eine Alltagsszene, die vielen bekannt vorkommen könnte: Am Tisch diskutieren vier Freundinnen und Freunde – das Bierglas in der einen, die Bratwurst in der anderen Hand.

Eine schüttelt den Kopf: „Ich kann es einfach nicht ertragen, wie grob mit den Leuten in der Geflüchteten-Unterkunft umgegangen wird. Manche sind krank, manche haben alles verloren. Wer da wegsieht, macht sich mitschuldig.“

Der zweite kontert: „Und was ist mit uns? Meine Schwester sucht seit Monaten eine Wohnung. Wenn wir immer nur an die Zuwanderer denken, bleibt am Ende für uns selbst nichts mehr übrig.“

Die dritte wirft ein: „Ganz ehrlich – Regeln sind da, um eingehalten zu werden. Wenn jemand ohne Papiere hier ist, dann ist das eben illegal. Punkt.“

Der vierte schließlich grinst und hält sein Glas hoch: „Und während ihr euch darüber streitet, wer recht hat, sitzen wir alle hier, essen Fleisch, trinken Bier, feiern – und tun so, als wäre das alles sauber. Dabei ist klar: Weder Massentierhaltung noch unser Lebensstil sind unschuldig an der weltweiten Migration.“

Einen Moment lang verstummt die Runde. Vier Stimmen, vier Sichtweisen – und jede nimmt für sich in Anspruch, etwas über „richtig“ und „falsch“ auszusagen. Mehrere moralische Themen widersprechen sich, überlagern sich, ignorieren sich, prallen aufeinander. Moral prägt, wie wir die Welt sehen, wie wir urteilen, wie wir handeln – und sie ist auch ein Grund dafür, dass wir in Bezug auf politische Meinungen so oft so tief gespalten sind.

Moral Foundations Theory – die Bausteine der Moral

Eine der bekanntesten Theorien, die Unterschiede im Moralempfinden beschreibt, ist die Moral Foundations Theory (MFT) von Jonathan Haidt und Jesse Graham (2007). Sie geht davon aus, dass es mehrere moralische „Säulen“ (Themenbereiche) gibt, die jeder Mensch für mehr oder weniger moralisch relevant halten kann. In einer Variante der Theorie werden fünf solcher Säulen (im englischen Original „Foundations“) unterschieden:

1.            Fürsorge (Care): Leiden vermeiden, andere beschützen
2.            Fairness (Fairness): Gerecht teilen, Betrug bestrafen
3.            Loyalität (Loyalty): Zur eigenen Gruppe halten
4.            Autorität (Authority): Regeln und Hierarchien respektieren
5.            Reinheit (Sanctity): Vorstellungen von Heiligkeit ernst nehmen

Die Forschung von Haidt und Graham zeigt: Politisch „Links-orientierte“ betonen vor allem die „individualisierenden“ Säulen Fürsorge und Fairness, also moralische Normen, die den Schutz, die Rechte und die Freiheiten einzelner Menschen sichern. Politisch eher „Rechts-orientierte“ halten darüber hinaus die Säulen Loyalität, Autorität und Reinheit für moralisch bedeutsam – Werte, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft sichern und deshalb als „binding foundations“ bezeichnet werden (Graham et al., 2009).

Diese Befunde wurden in vielen Ländern repliziert – von den USA bis Schweden oder der Türkei (Kivikangas et al., 2021; Nilsson & Erlandsson, 2015; Yalçındağ et al., 2019). Und sie scheinen einen Teil der politischen Grabenkämpfe zu erklären: Ob es um Migration, Umwelt, Religion oder soziale Fragen geht: Politische Meinungsunterschiede wurzeln auch in unterschiedlichen moralischen Prioritäten (Koleva et al., 2012; Milesi, 2016).

Doch so weitreichend diese Theorie ist: Sie übersieht bislang einen entscheidenden Faktor – Perspektiven.

Justice Sensitivity – wer ist betroffen?

Die zweite große Forschungstradition stammt aus der Justice Sensitivity Literatur (Baumert & Schmitt, 2016). Sie fragt, wie sensibel Menschen auf Ungerechtigkeit reagieren; anders gesagt: wo ihre individuelle Schwelle liegt, Ungerechtigkeit wahrzunehmen und auf diese emotional zu reagieren. Wichtig ist hier die Einsicht, dass jeder von uns mehrere solche Schwellen hat – je nachdem, welche Rolle man in einer ungerechtigkeitsrelevanten Situation hat und welche Perspektive man einnimmt.

Vier Perspektiven sind entscheidend:

•             Opfer-Perspektive: Ich selbst werde unfair behandelt.
•             Beobachter-Perspektive: Ich sehe, wie jemand anderem Unrecht geschieht.
•             Nutznießer-Perspektive: Ich profitiere davon, dass jemand anderem Unrecht widerfährt.
•             Täter-Perspektive: Ich erkenne, dass ich selbst jemandem Unrecht getan habe.

Diese Unterscheidung ist zentral. Denn es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen, die besonders stark auf eigene Benachteiligung reagieren („Opfer-Sensible“), eher zu typisch konservativen Einstellungen und Wertorientierungen neigen: rechtsgerichteter Populismus, Ablehnung von Migration, Skepsis gegenüber Klimapolitik. Menschen, die stärker auf Ungerechtigkeiten gegenüber anderen Personen reagieren („Beobachter-, Nutznießer, oder Täter-Sensible“), neigen eher zu liberalen Einstellungen und Wertorientierung und haben eine Präferenz für Solidarität, Inklusion und Umweltschutz (Nicolai et al., 2022; Rothmund et al., 2017, 2020).

Moralische Säulen × Perspektiven

In unserer Forschung kombinierten wir beide Forschungsstränge der Moralpsychologie: die fünf moralischen Säulen und die vier Perspektiven. Heraus kam ein integriertes Moral Foundations × Perspektiven Modell. 

Die Logik dahinter: Auf Basis der Justice Sensitivity-Literatur sollte es einen Unterschied machen, ob ich eine moralisch relevante Situation aus der Perspektive des Betroffenen beurteile – etwa: „Meine Autorität wurde untergraben“ – oder aus der Beobachterperspektive – etwa: „Die Autorität einer anderen Person wurde missachtet“. Bisherige Forschung zu „Moral Foundations“ hat diese Differenzierung nicht berücksichtigt und damit wahrscheinlich unterschiedliche Bedeutungen von Autoritätserleben vermischt.

Wir entwickelten deshalb eine neue Skala, die jede moralische Säule explizit aus allen vier Perspektiven erfasst. In einer repräsentativen Befragung von über 2.000 Menschen in Deutschland (finanziell unterstützt durch das Leibniz-Institut für Psychologie; ZPID) testeten wir, ob dieses „kombinierte“ Modell besser erklärt, wie Moralempfinden und politische Orientierung zusammenhängen.

Zentrale Ergebnisse

  1. Das kombinierte Modell passt besser.
    Die Kreuzung aus moralischen Säulen und Perspektiven passt besser auf die Daten als die beiden einfachen Modelle: also das Modell, das nur moralische Säulen beinhaltet, oder das Modell, das nur Perspektiven beinhaltet.

     
  2. Selbstorientierte Moral-Sensibilität → rechts.
    Menschen, die stark auf Situationen reagieren, in denen sie selbst benachteiligt werden, neigen – unabhängig davon, ob es bei dieser Benachteiligung um Fürsorge, Fairness, Loyalität, Autorität oder Reinheit geht – eher zu konservativen Einstellungen und unterstützen konservative Parteien (im Vergleich zu Menschen, die weniger stark auf eigene Benachteiligung reagieren).

     
  3. Fremdorientierte Moral-Sensibilität → links.
    Menschen, die stark auf Situationen reagieren, in denen andere benachteiligt werden (Beobachter), in denen sie für eine solche Benachteiligung verantwortlich sind (Täter), oder von der sie selbst profitieren (Nutznießer), zeigen – ebenfalls über alle moralischen Säulen hinweg – eine stärkere Nähe zu linken Positionen und Parteien (im Vergleich zu denjenigen, die weniger stark auf solche Situationen reagieren).

     
  4. Perspektivabhängige Bewertung moralischer Säulen.
    Ein gut etablierter Effekt sollte neu betrachtet werden. Bisher galt als gesichert, dass rechts-orientierte Personen stärker Wert auf „bindende“ moralische Säulen wie Loyalität oder Autorität legen als links-orientierte. Doch wenn wir Perspektiven mit einbeziehen, verändert sich dieses Bild. Es zeigt sich, dass nicht das Thema (also die moralische Säule) an sich relevant ist, sondern nur in Abhängigkeit von der Perspektive: Konservative halten Loyalitäts- oder Autoritätsverletzungen vor allem dann für moralisch falsch, wenn sie selbst oder ihre Gruppe von diesen betroffen sind. Liberale hingegen halten Loyalitäts- oder Autoritätsverletzungen für moralisch falsch, wenn andere davon betroffen sind.

Warum das relevant ist

Diese Erkenntnisse sind relevant, da sie möglicherweise zum Verständnis politischer Polarisierung beitragen können. Wie moralische Themen und Perspektiven spalten, können wir an einem Beispiel festmachen:

Stellen wir uns vor, die Regierung beschließt, erhebliche finanzielle Mittel für internationale Klimahilfen bereitzustellen.

Rechts-orientierte Menschen reagieren darauf empört, weil sie eine Opfer-Perspektive einnehmen: Sie empfinden die Entscheidung als Verrat an der eigenen Bevölkerung – „wir müssen selbst steigende Energiekosten tragen, und trotzdem geht unser Geld ins Ausland“.

Links-orientierte Menschen reagieren darauf empört, weil eine Fremd-Perspektive einnehmen: Sie sehen es als moralisches Versagen, wenn wohlhabende Länder nicht genug Verantwortung für ärmere Staaten übernehmen – „Diese Menschen leiden unter den Folgen eines Problems, das wir maßgeblich mitverursacht haben“.

Beide Seiten berufen sich also auf moralische Prinzipien – die einen auf Fairness und Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe, die anderen auf Fürsorge und Gerechtigkeit gegenüber anderen. Doch weil sie das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven bewerten, entsteht Polarisierung: Dieselbe politische Entscheidung wird entweder als unfairer Nachteil für uns selbst oder als unmoralisches Versagen gegenüber anderen gedeutet.

Wichtig ist dabei: Beide Seiten beanspruchen, moralisch zu handeln – und aus ihrer Position tun sie das auch, jeweils auf Basis ihrer moralischen Säulen und Perspektiven. Gerade weil jede Seite ihr Handeln als moralisch legitim versteht, fehlt oft die Anerkennung, dass auch die Gegenseite aus einer moralischen Logik heraus argumentiert. Genau dieser Umstand kann Polarisierung verschärfen: Moralische Argumente sind besonders spaltend, weil sie nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern auch unterschiedliche Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“ gegeneinanderstellen (Abeywickrama et al., 2020). 

Die Polarisierung in westlichen Gesellschaften wird dadurch greifbarer: Sie ist nicht nur ein Streit über Werte, sondern auch ein Konflikt über Blickwinkel. 

Dieses Wissen hat praktische Konsequenzen: Wer politische Kommunikation verbessern will, muss Perspektivenwechsel ermöglichen. Nur wenn Menschen erkennen, dass die Gegenseite nicht immer „unmoralisch“ ist, sondern möglicherweise einen anderen Standpunkt einnimmt, kann Verständigung entstehen.

Fazit

Unsere Forschung macht klar: Moral ist kein einheitliches Maß, sondern ein Prisma. Entscheidend ist nicht nur, welche moralischen Säulen für uns bedeutsam sind, sondern vor allem, aus welcher Perspektive wir moralische Themen wahrnehmen. 

Rechte Haltungen sind stärker durch selbstorientierte Sensibilität geprägt – das heißt, durch die Sorge um die eigene Benachteiligung oder die der „eigenen Gruppe“. Linke Haltungen dagegen speisen sich stärker aus fremdorientierter Sensibilität – mit einem Blick für Normverletzungen, die andere betreffen.

Beide folgen moralischen Prinzipien, aber sie verankern diese Prinzipien in unterschiedlichen Perspektiven. Was für die eine Seite nach „Gerechtigkeit“ klingt, erscheint der anderen als „Benachteiligung“ – und umgekehrt.

Die Konsequenz:

  • Wer Debatten verstehen will, muss nicht nur fragen: „Welche Werte sind dir wichtig?“
  • Sondern auch: „Aus wessen Sicht betrachtest du die Situation?“


Dieses Umdenken könnte politische Gräben ein Stück weit überbrücken. Es erklärt, warum Argumente oft ins Leere laufen – und zeigt, wo Dialog ansetzen muss: nicht im Gegeneinander von Werten, sondern im Verstehen der Perspektiven.
 

Lesen Sie den OA-Artikel “Combining Moral Foundations and Justice Sensitivity Perspectives to Understand Political Orientation”.

Referenzen

Abeywickrama, R. S., Rhee, J. J., Crone, D. L., & Laham, S. M. (2020). Why Moral Advocacy Leads to Polarization and Proselytization: The Role of Self-Persuasion. Journal of Social and Political Psychology, 8(2), 473–503. 
doi.org/10.5964/jspp.v8i2.1346

Baumert, A., & Schmitt, M. (2016). Justice Sensitivity. In C. Sabbagh & M. Schmitt (Eds), Handbook of Social Justice Theory and Research (pp. 161–180). Springer. 
doi.org/10.1007/978-1-4939-3216-0_9

Graham, J., Haidt, J., & Nosek, B. A. (2009). Liberals and conservatives rely on different sets of moral foundations. Journal of Personality and Social Psychology, 96(5), 1029–1046. 
doi.org/10.1037/a0015141

Haidt, J., & Graham, J. (2007). When Morality Opposes Justice: Conservatives Have Moral Intuitions that Liberals may not Recognize. Social Justice Research, 20(1), 98–116. 
doi.org/10.1007/s11211-007-0034-z

Kivikangas, J. M., Fernández-Castilla, B., Järvelä, S., Ravaja, N., & Lönnqvist, J.-E. (2021). Moral foundations and political orientation: Systematic review and meta-analysis. Psychological Bulletin, 147(1), 55–94. 
doi.org/10.1037/bul0000308

Koleva, S. P., Graham, J., Iyer, R., Ditto, P. H., & Haidt, J. (2012). Tracing the threads: How five moral concerns (especially Purity) help explain culture war attitudes. Journal of Research in Personality, 46(2), 184–194.
doi.org/10.1016/j.jrp.2012.01.006

Milesi, P. (2016). Moral foundations and political attitudes: The moderating role of political sophistication. International Journal of Psychology, 51(4), 252–260. 
doi.org/10.1002/ijop.12158

Nicolai, S., Franikowski, P., & Stoll-Kleemann, S. (2022). Predicting Pro-environmental Intention and Behavior Based on Justice Sensitivity, Moral Disengagement, and Moral Emotions – Results of Two Quota-Sampling Surveys. Frontiers in Psychology, 13. 
doi.org/10.3389/fpsyg.2022.914366

Nilsson, A., & Erlandsson, A. (2015). The Moral Foundations taxonomy: Structural validity and relation to political ideology in Sweden. Personality and Individual Differences, 76, 28–32. 
doi.org/10.1016/j.paid.2014.11.049

Rothmund, T., Bromme, L., & Azevedo, F. (2020). Justice for the People? How Justice Sensitivity Can Foster and Impair Support for Populist Radical-Right Parties and Politicians in the United States and in Germany. Political Psychology, 41(3), 479–497. 
doi.org/10.1111/pops.12632

Rothmund, T., Stavrova, O., & Schlösser, T. (2017). Justice Concerns Can Feed Nationalistic Concerns and Impede Solidarity in the Euro Crisis: How Victim Sensitivity Translates into Political Attitudes. Social Justice Research, 30(1), 48–71. 
doi.org/10.1007/s11211-017-0280-7

Yalçındağ, B., Özkan, T., Cesur, S., Yilmaz, O., Tepe, B., Piyale, Z. E., Biten, A. F., & Sunar, D. (2019). An Investigation of Moral Foundations Theory in Turkey Using Different Measures. Current Psychology, 38(2), 440–457. 
doi.org/10.1007/s12144-017-9618-4

Dr. Lucas Köhler

Dr. Lucas Köhler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Persönlichkeitspsychologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören affektive Polarisierung, Wahrnehmungen von Ungerechtigkeit und Moralpsychologie. Er promovierte am Lehrstuhl Sozialpsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Thema "The Fear of Injustice - How Victim Sensitivity Affects Political Attitudes and Behaviour".

Zeitschrift Social Psychology

Social Psychology publishes innovative and methodologically sound research and serves as an international forum for scientific discussion and debate in the field of social psychology. Topics include all basic social psychological research themes, methodological advances in social psychology, as well as research in applied fields of social psychology. The journal focuses on original empirical contributions to social psychological research, but is open to theoretical articles, critical reviews, and replications of published research. 

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