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Wie Geschwister das Leben bereichern können

Wenn ein Kind Geschwister bekommt, ist plötzlich vieles anders und ungewohnt. Wie es gelingt, dass Kinder die Änderungen positiv wahrnehmen, sich auf das Geschwisterchen freuen und eine gute Beziehung aufbauen können, zeigen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund in ihrem neuen Buch mit einem Bilderbuchteil für Kinder zwischen 2 und 4 Jahren und einem Textteil für Erwachsene. Mit Fabian Grolimund haben wir darüber gesprochen, was es bedeutet, Geschwister zu bekommen und wie Probleme gemeistert werden können.

Wenn Kinder Geschwister bekommen, ändert sich ihr Alltag schlagartig. Sind diese Änderungen generell schwierig für ein Kind? Worauf muss es sich einstellen?

Die Geburt eines Geschwisterchens bringt für das ältere Kind viele Veränderungen mit sich. Das muss aber nicht zwangsläufig schwierig sein. Viele Kinder bauen rasch eine Beziehung zum neuen Familienmitglied auf, genießen ihre Rolle als ältere Schwester oder großer Bruder und finden sich darin gut zurecht. Andere tun sich schwer, können mit dem Baby zunächst wenig anfangen, erleben aber schmerzlich, dass die Eltern nun weniger Zeit für sie haben und reagieren eifersüchtig, wenn das Baby die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht.

Das hängt einerseits von der Persönlichkeit des Kindes ab, aber auch davon, wie das Familiensystem mit der neuen Situation umgeht. 

Das Buch hat einen Bilderbuchteil mit Texten zum Vorlesen und einen Elternteil. Im ersten Teil werden die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die das neue Familienmitglied bringen kann, nicht thematisiert, sondern nur das Positive. Warum ist das so?

Gerade weil viele Kinder sehr gut mit dieser Situation umgehen können und das kleine Geschwister als Bereicherung empfinden. Wir finden es nicht sinnvoll, den Kindern ohne Not in den Kopf zu setzen, dass dieser Übergang problematisch sein wird, sie erleben müssen, wie die Eltern durch das Baby weniger Zeit für sie haben werden und dass Eifersucht zwingend dazugehört. Man kann bei Kindern auf diese Weise auch Ängste oder negative Assoziationen wecken, die sonst gar nicht da gewesen wären. Wenn man merkt, dass das eigene Kind sich schwertut, kann man immer noch ein entsprechendes Buch kaufen, um diese Gefühle zu thematisieren.

Im Elternteil geben wir jedoch viele Hinweise, wie Eltern ihrem Kind den Übergang erleichtern können, wie sie Gefühle von Verbundenheit, Liebe und Empathie fördern und gleichzeitig Eifersucht, Ängsten und Wut liebevoll begegnen können.

Im Bilderbuch ist Ente Merle die Hauptfigur, warum wurde dieses Tier gewählt? Immerhin hat es ja gleich acht Geschwister auf einmal bekommen …

Einige Leser*innen kennen Hasenmädchen Lotte, Bärin Frieda und Ente Merle vielleicht bereits aus unseren anderen Kinderbüchern und Kinderromanen. Sie wissen bereits: Frieda und Lotte sind Einzelkinder, Merle hat viele Geschwister. 

Nun lernen sie diese kennen und erfahren, wie Merle in die Rolle der großen Schwester hineinwachsen konnte. 

Wir fanden es zudem witzig, dass Merle als Ente gleich viele Brüder und Schwestern auf einmal bekommt: So gibt es für die Kinder auf den Seiten einiges zu entdecken, wenn gleich acht kleine Enten im Teich baden, gewickelt werden müssen oder mit Merle Verstecken spielen. 

Es gibt verschiedene Strategien, die im vorderen Teil zum Ausdruck kommen, wie z.B. das ältere Geschwisterkind mithelfen zu lassen, als Vorbild zu dienen, als Spielgefährte oder Spielgefährtin – wie werden die im Elternteil aufgegriffen?

Der Elternteil vertieft diese Möglichkeiten und zeigt: Ob sich das ältere Kind in seiner Rolle wohlfühlt, hängt auch stark davon ab, wie die Eltern diese gestalten. Darf das ältere Kind Verantwortung übernehmen und beispielsweise beim Wickeln und Anziehen helfen? Oder fühlt es sich zurückgewiesen, weil ihm nichts zugetraut wird? Muss es immer warten und hört ständig „nein“ oder wird es mit einbezogen und erlebt: Wir, Eltern und Kind, haben gemeinsam ein Baby dazubekommen, um das wir uns kümmern und das wir lieben dürfen? 

Muss es nun ständig groß, selbstständig und vernünftig sein oder darf es auch selbst noch klein sein, sich fallen und umsorgen lassen, damit es – so gestärkt – wieder gerne in die Rolle des großen Geschwisters schlüpfen kann?

Ein typisches Phänomen kommt auch im Bilderbuch-Teil zum Ausdruck, nämlich, dass das ältere Geschwisterkind plötzlich auch wieder in ein „Baby-Verhalten“ fällt. Was steckt dahinter und wie kann man dem begegnen?

Dazu gibt es viele Theorien. Eine ganz simple, die dieses Verhalten nicht unnötig pathologisiert, ist die folgende: Durch das Baby und alles, was darum herum passiert, werden Erinnerungen wach. Bestimmte Gedächtnisinhalte des älteren Kindes werden einfach reaktiviert und es wird an das heimelige Gefühl des Umsorgtwerdens und all die schönen Erfahrungen, die mit diesem Alter verbunden sind, erinnert. So wie wir vielleicht wieder Schmetterlinge im Bauch spüren, wenn wir bestimmte Lieder hören, die uns an die Zeit des Verliebtseins erinnern. Oder beim Klassentreffen plötzlich in alte Rollen verfallen. 

Viele Eltern glauben, dem sofort einen Riegel vorschieben zu müssen, damit das Kind in seiner Entwicklung nicht „zurückfällt“. Solche Ängste sind unbegründet. Wenn wir das nicht als „Rückschritt“ sehen, sondern einfach als Wunsch des älteren Kindes, sich geborgen zu fühlen und die Nähe der Eltern zu spüren, dann können wir dem mit gutem Gefühl nachgeben. Dabei darf man oft feststellen: Wenn das ältere Kind ein bisschen klein sein und Nähe tanken durfte, schlüpft es danach umso lieber wieder in die Rolle des großen Kindes. 

Selbstständigkeit lässt sich nicht erzwingen, indem man diese einfordert und sich dem Kind entzieht. Sie entwickelt sich eher dadurch, dass das Bedürfnis nach Bindung gesehen und erfüllt wird und das Kind dadurch die Sicherheit bekommt, dass es nicht darum kämpfen muss.

Wie können Eltern verhindern, dass sie sich quasi zwischen den Kindern aufreiben, weil sie die Bedürfnisse des Neugeborenen erfüllen müssen, aber gleichzeitig das ältere Geschwisterkind nicht zu kurz kommen soll?

Diese Zeit ist für die Eltern und das ältere Kind schlicht und einfach herausfordernd und oft anstrengend. Entsprechend kommen auch die Bedürfnisse aller immer mal wieder zu kurz – und das darf so sein. Hilfreich ist, wenn man sich dessen bewusst ist und sich – sofern möglich – für die erste Zeit nach der Geburt gut organisiert. Immer noch verzichten viele Väter auf Elternzeit. Dabei wäre es sehr hilfreich, wenn sich die Eltern mit der Betreuung der Kinder in der ersten Zeit abwechseln könnten und beide Elternteile von Anfang an in die Kinderbetreuung eingebunden sind.  

Auch für andere Bezugspersonen ist das Buch geeignet und gibt wertvolle Tipps. Z.B., wie verhindert werden kann, dass nur noch das Neugeborene im Vordergrund steht. Wie könnte man sich da günstig verhalten – meist geht man ja tatsächlich z.B. direkt auf den Kinderwagen zu o.ä.

Ja. Beim Besuch wollen die meisten Verwandten und Bekannten verständlicherweise sofort das Baby sehen. Das ältere Kind kann sich dabei vorkommen wie das fünfte Rad am Wagen und entsprechend frustriert und eifersüchtig reagieren. 

Dann können bereits Kleinigkeiten einen Unterschied machen. Besuch könnte anstatt dem Baby dem großen Geschwister ein kleines Geschenk mitbringen: Es freut sich sicher mehr darüber als das Neugeborene. Vielleicht beschäftigen sie sich zuerst einen Moment mit ihm – oder lassen sich von ihm das neue Familienmitglied zeigen?

 

Vielen Dank für das Gespräch! 

Alle Abbildungen sind von Markus Wilke und stammen aus dem Buch „Juhu, ich bekomme ein Geschwisterchen!“

Fabian Grolimund

Fabian Grolimund, geboren 1978, ist Psychologe und leitet gemeinsam mit Stefanie Rietzler die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Besonders gern setzt er seine Kreativität und Fantasie ein, um etwas Neues entstehen zu lassen: eine spannende Geschichte, einen hilfreichen und praktischen Ratgeber, ein interessantes Seminar oder Kurzfilme für Eltern, Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche. Dazu sitzt er am liebsten in einem gemütlichen Café.

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